Der Flüchtling als Feind
Von Christian Bunke
Am 30. September warf ein Mann drei Brandsätze auf ein Flüchtlingslager in der südenglischen Hafenstadt Dover und tötete sich anschließend selbst. Einen Tag später erklärte die britische konservative Innenministerin Sue-Ellen Braverman, sie arbeite daran, »die Invasion an unserer Südküste zu stoppen«. Damit meinte sie die Ankunft von rund 40.000 Flüchtlingen, die sich laut Regierungsangaben vom Sonntag in diesem Jahr bereits mit Schlauchbooten auf den gefährlichen Weg von Frankreich über den Ärmelkanal nach England gemacht hätten. Noch nie waren es so viele gewesen. Die meisten von ihnen kommen laut dem britischen Innenministerium aus Albanien, Afghanistan, Iran und Irak.
Am Montag nun verkündete Braverman das vorläufige Ergebnis ihrer Bemühungen in Sachen Flüchtlingsbekämpfung: Ein neuer, frisch unterzeichneter Deal mit der französischen Regierung soll es richten. Die bereits seit Jahren andauernde militärische Aufrüstung des Ärmelkanals sowie der britischen und französischen Grenzregionen wird damit fortgesetzt. 72 Millionen Euro will London dafür im kommenden Jahr laut Innenministerium in die Hand nehmen. Im Vergleich zum Zeitraum von 2021 bis 2022 sind das rund zehn Millionen Euro mehr. 62,7 Millionen Euro zahlte die britische Regierung in diesem Jahr an Paris, so die Financial Times am Montag unter Berufung auf französische Quellen.
Mit diesem Geld solle die »Sicherheit in den Häfen erhöht werden«, um »illegalen Eintritt« zu verhindern, heißt es in einer Pressemitteilung des britischen Innenministeriums vom Montag. Dafür wolle man in »modernste Überwachungstechnologien, Drohnen, Spürhunde, Überwachungskameras und Helikopter« investieren, um »Übertritte zu erkennen und zu verhindern«. Angedacht sei außerdem die Einrichtung von »Empfangs- und Entfernungszentren« in Frankreich, wie es in geradezu orwellscher Sprache in der Pressemitteilung weiter heißt. Diese seien für »Migranten« gedacht, deren Einreiseversuch nach Großbritannien erfolgreich verhindert worden sei.
Auch sonst wollen britische und französische Behörden ihre Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsbekämpfung intensivieren. So sollen der Regierung in London zufolge künftig »erstmals in der Geschichte« britische Beamte in französische Grenzschutzorgane »eingebettet« werden – und umgekehrt. Die in Frankreich operierenden Briten erhielten allerdings lediglich einen Beobachterstatus, dürfen also selbst keine Festnahmen durchführen. Laut Financial Times vom Montag soll bis Mitte kommenden Jahres die Zahl der in Frankreich mit der Verhinderung von Schlauchbootüberquerungen beschäftigten Beamten auf bis zu 300 aufgestockt werden. 2018 seien nur 90 Beamte mit dieser Aufgabe befasst gewesen, so das Blatt.
Auf britischer Seite ist inzwischen die Royal Navy im Ärmelkanal unterwegs, um Flüchtlingsboote abzufangen. Längst wurde dafür ein eigener Kommandeur eingesetzt, der Einsätze mit Schnellbooten, Hubschraubern und Drohnen befehligt. Bravermans Vorgängerin Priti Patel, wollte die Kriegsmarine sogar zur Durchführung von sogenannten Pushbacks ermächtigen, so dass Flüchtlingsboote zur Umkehr nach Frankreich gezwungen werden könnten. Das wäre dann gegebenenfalls auch durch das Rammen von Flüchtlingsbooten möglich. Die britische Regierung sah letztlich davon ab, wohl auch, um nicht wegen zu offensichtlicher Menschenrechtsverstöße angeklagt zu werden.
Doch auch so endet die Überfahrt für viele Flüchtlinge tödlich. Am Montag veröffentlichte die unter anderem für die Tageszeitung The Guardian arbeitende freiberufliche Journalistin Nicola Kelly auf Twitter ein Transkript, welches die Kommunikation von in Seenot geratenen Flüchtlingen mit französischen und britischen Behörden vom 24. November vergangenen Jahres wiedergeben soll. Demnach spielten die Behörden den Ball stundenlang hin und her, ohne Hilfe zu schicken. 32 Flüchtlinge ertranken an jenem Tag.
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