In feindlicher Umgebung
Von Daniel Bratanovic
Wenn ein Staat die größten Hervorbringungen seiner Nationalliteratur aus dem Kanon verbannt oder gar nicht erst in diesen aufnimmt, dann lässt sich daraus etwas über Zustand und Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft sagen, die diesen Staat konstituiert. Im August war zu lesen, dass der Freistaat Bayern Goethes »Faust« als Pflichtlektüre aus dem Lehrplan für den Deutschunterricht streicht. Und von Peter Hacks ist gleich gar nicht bekannt, dass seine Stücke an Schulen gelesen werden. Die Klassik, soll das heißen, will keiner mehr, das Bürgertum ist seiner eigenen glorreichen Hervorbringungen überdrüssig geworden.
Solitär, beinahe esoterisch mutet daher an, wenn sich die Teilnehmer einer Konferenz diesen Tendenzen trotzig entgegenstellen und ausgerechnet das Verhältnis von Goethe und Hacks diskutieren. Auf der 15. Peter-Hacks-Tagung, die wie üblich im Berliner Magnus-Haus stattfand, wurde vergangenes Wochenende unter dem Motto »Als man begriff, dass er unschlagbar wär« scheinbar Vergangenes, ja Abgetanes verhandelt, das aber in Wahrheit Zukunft verheißt. Es geht um Formstrenge und Schönheit, um Vernunft und Fortschritt, um Bewahrung und Verbesserung.
Bezüge zu und Berufung auf Goethe sind im Werk von Hacks Legion. Der Dichter der Weimarer Klassik geriet dem Dichter einer von ihm allein repräsentierten sozialistischen Klassik in der DDR zum Maßstab und Vorbild, ohne dass der Nachkomme beim Früheren schlicht abgekupfert hätte. So arbeitete Felix Bartels denn auch die unterschiedlichen Antworten heraus, die beide auf die Frage »Wie entsteht ein klassischer Nationalautor?« gegeben haben. Goethe formulierte in seinem 1795 erschienenen Aufsatz »Literarischer Sansculottismus« Bestimmungen – vor allen Dingen die Einheit und Blüte einer Nation –, die ihn angesichts der deutschen Misere seiner Zeit schließen ließen, er selbst sei keiner: »Wir sind überzeugt, dass kein deutscher klassischer Autor existiert«, wohl aber Autoren, die klassisch arbeiten. Machte Goethe die absolute Höhe einer Gesellschaft, also einen gegebenen Zustand, zur Voraussetzung vollkommener klassischer Kunst, so betonte Hacks, dass die großen Gelegenheiten der Kunst nicht die Zeiten der großen Zustände, sondern die großer Vorhaben seien: wo Zuversicht und Hang zum Wirklichen aufeinandertreffen können, also Bewegung und »Raum nach oben« (Bartels) die entscheidenden Bedingungen werden. Marxistisch gewendet, resümierte Bartels: »Es geht nicht um den Stand der Produktivkräfte, sondern um die jeweils konkreten Produktionsverhältnisse, die Form und Potential ermöglichen können.«
Es mag schwerfallen, Maßgaben anzugeben. Was Klassik ist, lässt sich leichter bestimmen als das, was sie ganz bestimmt nicht ist: Romantik. Jürgen Pelzer machte in seinem Tagungsbeitrag darauf aufmerksam, in welchem Maße die Reflexionen des Goethe-Zeitgenossen Heinrich Heine Hacks halfen, klassische und romantische Positionen ästhetisch, politisch und philosophisch zu unterscheiden. Doch dessen unermüdlicher und bis zuletzt geführter Kampf gegen eine Renaissance der Romantik in der DDR, daran erinnerte Pelzer, blieb am Ende vergeblich.
In die Auseinandersetzung mit der Romantik fiel für Hacks, das ergibt sich zwingend, auch die Beschäftigung mit Napoleon. Die Bewunderung für den Franzosenkaiser hatte er mit Goethe gemein, der ihn mit der griechischen Sagengestalt Prometheus verglich und ihm gewaltige Tatkraft und geniale Produktivität attestierte, gleichwohl aber wusste, dass Bonaparte auch ein Ausbeuter und Fremdherrscher war. Hacks habe das schon gewusst, dennoch habe er Napoleon in späteren Jahren ganz und gar unironisch stilisiert, führte Heinz Hamm in seinem Vortrag aus. Die Haltung zu Napoleon im damaligen Deutschland sei dem Dichter der DDR zum Gradmesser von Fortschritt und Reaktion geraten, antinapoleonische Kunst war für ihn gleichbedeutend mit ästhetischer Konterrevolution. Hacks sei von einem tiefen Misstrauen gegen die Vaterländischen geprägt gewesen, habe seine kritische Haltung gegenüber dem preußischen Reformer vom Stein bei dem westdeutschen Historiker Franz Herre geborgt und sich damit gegen die vorherrschende Darstellung der DDR-Historiographie gewandt.
Es ließen sich weitere Bezüge zwischen Hacks und Goethe finden. Ralf Klausnitzer setzte sich mit frühen Goethe-Studien des jungen Hacks auseinander. Marie Hewelt und Ruben Luckardt referierten über das Verhältnis zwischen Goethe und Charlotte von Stein, mit dem sich Hacks nicht nur in seinem Stück »Ein Gespräch im Hause Stein …« beschäftigt hatte. Heidi Ritter sprach zu Hacksens Bearbeitung des frühen Goethe-Stücks »Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern«, Ralf Meyer zur Adaption von »Pandora«.
Eine Gesellschaft, in der die ernsthafte Beschäftigung mit der Klassik, defensiv formuliert, nicht sonderlich angesehen ist, hat nicht mehr viel zu sagen. Ausnahmen in feindlicher Umgebung, wie sie diese Tagung repräsentiert, haben es dafür um so mehr.
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