Drogenumschlagplatz Türkei
Von Emre Şahin
Nach 20 Jahren AKP-Regierung wird die Türkei international vor allem mit Femiziden, der willkürlichen Inhaftierung Oppositioneller, Korruptionsaffären, dem Krieg gegen Kurden und einer desolaten Wirtschaftslage in Verbindung gebracht. Wundersamerweise fehlt in dieser Liste bislang der florierende Drogenhandel, obwohl das Land seit Jahren Hauptumschlagplatz für Rauschgift nach Europa, auf die arabische Halbinsel und in den Kaukasus ist.
Anfang November sorgte Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten, kemalistisch ausgerichteten, Oppositionspartei CHP, mit einem Video für Aufsehen. In diesem warf er der Regierungspartei vor, an Geldwäsche und Drogenhandel beteiligt zu sein, um das Leistungsbilanzdefizit des wirtschaftlich schwächelnden Staates auszugleichen. Anträge auf parlamentarische Untersuchungen seitens der CHP und der linken HDP zu dem Thema lehnte die Regierungsallianz aus AKP und MHP vergangene Woche ab. Statt dessen erklärte Innenminister Süleyman Soylu am Freitag, dass er Kilicdaroglu wegen seiner Anschuldigungen verklagt habe.
Ausschlaggebend für die Beschuldigungen des CHP-Politikers dürfte der seit zwei Monaten im Land geführte Kleinkrieg zwischen den als »Balkan-Mafia« bezeichneten kriminellen Gruppen sein. Mitte September wurde der Chef der »Skaljari«, Jovan Vukotic, mitten in Istanbul erschossen. Daraufhin wurden Ende desselben Monats 13 Mitglieder der mit der »Skaljari« verfeindeten »Kavac« festgenommen, darunter der hochrangige Mafisoso Milan Vujotic. Am 5. November gelang es Einsatzkräften in Istanbul zudem, »Kavac«-Chef Zeljko Bojanic festzunehmen.
Doch wie kam es, dass die Türkei zum Umschlagplatz für derlei Aktivitäten wurde? 2017 gelang es der niederländischen Polizei, die PGP-Verschlüsselung von Blackberry-Smarphones zu knacken, die unter anderem von Drogenkartellen genutzt worden waren. In der Folge wurde mehrere Beschlagnahmungen von Rauschgift in Rekordmenge in den Häfen von Rotterdam, Antwerpen und Hamburg vermeldet. Im Vergleich zu diesen Umschlagplätzen bot die Türkei den Kriminellen beinahe optimale Bedingungen: Die katastrophale Wirtschaftslage – die Inflation liegt derzeit offiziell bei über 80 Prozent, dürfte tatsächlich aber weit höher liegen – begünstigt Korruption. Schwindende Währungsreserven und kaum Kontrolle von Fluchtkapital machen das Land zudem empfänglich für Geldwäsche.
Besonders lateinamerikanischen Kartellen dient die Türkei vermehrt als Umschlagplatz. So wurden im Juni 2020 im Hafen des kolumbianischen Buenaventura rund fünf Tonnen Kokain mit Ziel Türkei entdeckt. Im Mai 2021 wurden in Panama 616 Bananenkartons voller Kokain und Ende Juni dieses Jahres im ecuadorianischen Guayaquil rund 850 Kilogramm des Rauschgifts sichergestellt. Besondere Aufmerksamkeit hatte bereits im August 2021 ein im brasilianischen Fortaleza gemachter Fund erregt: In einem Privatjet mit dem Kennzeichen TC-GVA, der zuvor die Dienstmaschine des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gewesen war, stießen die Ermittler auf 1,3 Tonnen Kokain.
Wie tief die Türkei und insbesondere die »Grauen Wölfe« in den Drogenhandel involviert sind, bewies zudem bereits 2020 ein Grußvideo des mexikanischen Sinaloa-Kartells an die türkisch-faschistische Organisation: Begleitet von Militärmusik des Osmanischen Reiches zeigten die Kartellmitglieder den »Wolfsgruß« der türkischen Rechten. Zielort des in Lateinamerika sichergestellten Kokains war nahezu ausnahmslos der Hafen der südtürkischen Großstadt Mersin, während der Startpunkt in vielen Fällen der ecuadorianische Hafen Puerto Bolívar gewesen war. Letzterer wird von der türkischen Yilport Holding betrieben, an der der AKP-nahe Konzern Yildirim Holding beteiligt ist. 2016 erhielt Yilport eine 50jähirge Konzessionen für den Hafen.
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