Vom Jäger zum Gejagten
Von Hansgeorg Hermann
Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde. Am Montag ließ die Familie Kyriakou, Eignerin der größten griechischen Mediengruppe Antenna, ihren besten Mann von der Leine. Nikos Hatzinikolaou, Nachrichtenchef des TV-Senders Ant 1 und einer der bekanntesten Fernsehjournalisten, bat den Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis zum Interview. Thema des einstündigen, zeitweise zornigen Gesprächs: jener gigantische Abhörskandal, der seit Juli – von Athen ausgehend – die politische Szene des Landes bis hinauf ins EU-Zentrum Brüssel erschüttert und in dessen Strudel Mitsotakis nun unterzugehen droht. Der rechte Regierungschef, der seinen Aufstieg zum mächtigsten Politiker an der Ägäis und seinen Wahlsieg im Juli 2019 vor allem den milliardenschweren Oligarchen des Landes verdankte, ist dabei, die Unterstützung seiner reichen Freunde zu verlieren. Offenbar gehörten auch sie zu den Opfern des von Mitsotakis zu verantwortenden Lauschangriffs der Geheimdienste.
160 Namen veröffentlichte in der vergangenen Woche der investigative Journalist Kostas Vaxevanis, Redakteur der Athener Wochenzeitschrift Documento, und bilanzierte: »Jedermann war Objekt der Überwachung, Mitsotakis’ Gegner, aber auch seine eigenen Kollegen – Minister, die seiner Linie nicht folgten oder die als unberechenbar eingeschätzt wurden.« Verschont wurden weder frühere Vorsitzende der rechtskonservativen Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) wie der ehemalige Ministerpräsident Antonis Samaras noch steinreiche Reeder und Medienmogule wie Evangelos Marinakis, ein Trauzeuge der Schwester des Premiers. Dem Großkapitalisten gehören nicht nur die Schiffe der Maritime & Trading Corporation, sondern auch die Fußballvereine Olympiakos Piräus und Nottingham Forest sowie – wichtigstes aller Besitztümer – die einflussreiche bürgerliche Tageszeitung Ta Nea.
Kaum hatte Documento bekanntgemacht, dass Mitsotakis’ Agenten auch ihn nicht verschont hatten, eröffnete Marinakis gemeinsam mit seinen Kollegen das Feuer auf den Regierungschef. Ta Nea, die bei ihrer Leserschaft bisher eher um Vertrauen für den Kreter und dessen Familie geworben hatte, verlangte in der vergangenen Woche »restlose Aufklärung«. Es folgte wenig später das Ant 1-Interview mit Hatzinikolaou. Live gesendet aus der Regierungsvilla Maximou, tischte Mitsotakis erneut auf, was ihm in Athen und Brüssel längst keiner mehr glaubt: Er habe nichts gewusst vom Angriff der Dienste auf Freund und Feind, auch nichts von der Beschaffung der Spähsoftware »Predator«. Zu beklagen sei in der Tat »dies übrigens allen europäischen Regierungen« drohende Übel, die sozusagen unvermeidliche Verselbständigung der Überwachungsorgane »im Dienst der nationalen Sicherheit«. Hatzinikolaous Hinweis, dass Mitsotakis selbst es war, der – kaum gewählt – sofort die Kontrolle der Dienste einforderte und sie seinem Neffen, dem inzwischen geschassten Bürochef Grigoris Dimitriadis, übertrug, blieb unbeantwortet.
Weil Mitsotakis’ Inlandsdienst EYP (Nationale Informationsbehörde) den »Predator«, das »Raubtier«, auch auf das Handy des EU-Abgeordneten Nikos Androulakis ansetzte, kam die Affäre unerwartet ans Licht: Softwarespezialisten der EU alarmierten im Frühjahr den bestürzten Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei Pasok und lösten so den Skandal aus. Eine Ahnung vom »tiefen Staat«, dem politischen Untergrund, den die Opposition seither als den eigentlichen Regierungssitz des Premiers erkannt haben will, übermittelte im September ein Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments. Griechenland sei eine Gegend, »in der im Jahr 2021 ein einziger Staatsanwalt, der für den nationalen Geheimdienst zuständig ist, in nur einem Jahr 15.975 Beschlüsse zum Abhören von Personen aus Gründen der nationalen Sicherheit unterzeichnet hat«, sagte dort der Journalist Athanasios Koukakis aus, der selbst zu den Opfern des Lauschangriffs gehört.
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