Alle wollen etwas anderes
Von Ina Sembdner
Die Lage im Iran ist weiter verzwickt. Während zahlreiche Menschen im Land seit Wochen für die Beseitigung der Islamischen Republik auf die Straßen gehen, demonstrierten erst am Wochenende Zehntausende zur Unterstützung der Regierung. In sozialen Netzwerken kursieren verwackelte Handyaufnahmen von öffentlichen Tänzen von Frauen, die sich ihrer Hidschabs entledigen – der »nicht korrekte« Sitz der islamischen Kopfbedeckung führte in der Folge zum Tod der 22jährigen Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam und löste die derzeitige Protestwelle aus –, vom neuen »Volkssport« Turbanlupfen, von der Beseitigung künstlicher Barrieren zwischen den Geschlechtern zum Beispiel an Universitäten sowie von der gemeinsamen Nutzung des öffentlichen Raumes durch Frauen und Männer sowie von den zahlreichen kleineren und größeren Protesten im ganzen Land.
Nach Einschätzung von Menschenrechtsgruppen wurden in diesem Zusammenhang seit dem 17. September mindestens 330 Personen getötet – darunter 50 Minderjährige und 39 Einsatzkräfte, berichtete die Organisation Human Rights Activists News Agency mit Sitz in den USA am Freitag. Fast 15.000 Menschen seien zudem festgenommen worden.
Der liberale »Wertewesten« versucht zugleich, die feministische Bewegung, die an diesem Punkt nicht stehengeblieben ist, für seine geopolitischen Zwecke zu vereinnahmen. Das sieht auch die Regierung in Teheran, die ihrerseits die Proteste als allein vom Ausland initiiert und gesteuert einzurahmen sucht. Außenminister Hossein Amir-Abdollahian sprach sich am Freitag erneut gegen eine »Einmischung in innere Angelegenheiten« aus. Nach einem Telefonat mit UN-Generalsekretär António Guterres warnte der Minister vor »negativen Auswirkungen« auf die Zusammenarbeit mit dem Westen. Hintergrund ist eine geplante Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrats, die sich mit der staatlichen Gewalt gegen die Proteste befassen soll. Der Spitzendiplomat kritisierte, dass einige westliche Regierungen im Widerspruch zur UN-Charta die friedlichen Forderungen der Iraner missbrauchten, indem sie zu Gewalt aufriefen.
Tags zuvor hatte er Aussagen von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock kommentiert: »Provokative, interventionistische und undiplomatische Haltungen zeugen nicht von Raffinesse und Klugheit«, so Amir-Abdollahian via Twitter. Baerbock hatte dort am Mittwoch im gleichen Zungenschlag wie zur Ukraine angedroht: »Wir stehen an der Seite der Männer und Frauen in Iran, und zwar nicht nur heute, sondern: so lange es notwendig ist.« Ein weiteres Sanktionspaket werde vorbereitet.
Zwischen den Stühlen stehen die sogenannten Reformer. Deren Zusammenschluss, die Reformfront, bekräftigte zwar am Mittwoch ihre grundsätzliche Haltung, dass man sich gegen einen Regime-Change stelle, gleichzeitig forderte sie jedoch »sofortige, mutige und innovative Veränderungen«, um einen »wirksamen Dialog auf nationaler Ebene« zu eröffnen. Die iranische Verfassung biete dafür die Möglichkeit eines »Referendums und die direkte Befragung des Volkes« zu wichtigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fragen.
Bis es aber dazu kommen könnte, verschärft die Regierung das Vorgehen. Nachdem 227 »Hardliner« der insgesamt 290 Abgeordneten des iranischen Parlaments am Sonntag die Todesstrafe für Protestierende gefordert hatten, erklärte Justizsprecher Masoud Setayeshi am Dienstag, dass die Gerichte des Landes mit aller Entschiedenheit gegen alle vorgehen würden, die »Störungen verursachen oder Straftaten begehen«. Gegen die Verhafteten, deren Zahl er auf 1.024 bezifferte, werde »auf eine entschlossene, abschreckende und legale Weise« vorgegangen. Das beinhaltet nach iranischem Recht auch die Todesstrafe, so für den Vorwurf der »Kriegführung gegen Gott«.
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