Erneut an die Urne
Von Kristian Stemmler
Fehlende Stimmzettel, geschlossene Wahllokale, Stimmabgabe nach 18 Uhr – bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 und der gleichzeitig stattfindenden Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin häuften sich die Probleme. Am späten Donnerstag abend hat der Bundestag aus diesem Grund eine Wiederholung der Bundestagswahl in Teilen der Hauptstadt beschlossen. In 431 der 2.256 Wahlbezirke werden die Wahlberechtigten erneut an die Urnen gerufen. Das haben die Ampelfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP beschlossen. Der Opposition ging die Entscheidung nicht weit genug. CDU und AfD hatten sich offenbar angesichts guter Umfragewerte eine Wiederholung in wesentlich mehr Wahlbezirken gewünscht.
Die Bundestagswahl im September 2021 war in vielen Berliner Wahllokalen chaotisch verlaufen. Es gab lange Schlangen und Wartezeiten, falsche oder fehlende Stimmzettel. Diverse Wahllokale mussten vorübergehend geschlossen werden. Vielerorts blieben die Wahllokale bis weit nach 18 Uhr geöffnet, um noch die Stimmabgabe zu ermöglichen. Dass parallel zum Bundestag auch das Abgeordnetenhaus und die zwölf Bezirksparlamente neu gewählt wurden, während ein Berlin-Marathon den Verkehr stark beeinträchtigte, stellte die Verwaltung offenbar vor unlösbare Probleme. Hinzu kam noch der Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne.
Wegen der Straßensperren zur Absicherung der Marathonstrecke konnten zum Beispiel Wahlzettel nicht rechtzeitig nachgeliefert werden. Bundeswahlleiter Georg Thiel sah später ein »komplettes systemisches Versagen der Wahlorganisation« in Berlin und legte einen Einspruch gegen die Wahl ein. Insgesamt gingen 2.172 Einsprüche beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestags ein, so viele wie nie zuvor. Rund 1.700 davon betrafen allein den Wahlablauf in der Hauptstadt.
Laut dem Bundestagsbeschluss vom Donnerstag soll in jenen Wahlbezirken neu gewählt werden, in denen es zu Störungen kam. Also in denen die Stimmabgabe im September 2021 aufgrund von Wahlfehlern unterbrochen wurde, in denen es erhebliche Verzögerungen gab oder in denen Wähler wegen fehlender oder falscher Wahlzettel nicht gültig abstimmen konnten. Ein Wiederholungsgrund liegt demnach auch dann vor, wenn Wahllokale noch nach 18.30 Uhr geöffnet waren. Von den 431 Wahlbezirken sind 104 Briefwahlbezirke. Die Wiederholung soll mit Erst- und Zweitstimme erfolgen. Unklar ist noch der Zeitpunkt. Die Parteien im Bundestag gehen davon aus, dass der Beschluss vom Donnerstag vor dem Bundesverfassungsgericht angefochten wird. Wann dieses entscheidet, ist offen.
Sollte die Wahlbeteiligung bei der Teilwiederholung niedrig ausfallen, könnte es sein, dass künftig weniger Abgeordnete aus Berlin im Bundestag vertreten sein werden. Für die Partei Die Linke bedeutet die Wiederholung wohl keine Gefahr. Sie hatte zwar die Fünf-Prozent-Hürde nicht geschafft und war nur durch drei Direktmandate in den Bundestag eingezogen, darunter zwei in Berlin, die Gregor Gysi und Gesine Lötzsch gewinnen konnten. Deren Wahlkreise sind jedoch von der Wiederholung nicht oder nur marginal betroffen.
Die Union zeigt sich derweil unzufrieden mit dem Bundestagsbeschluss. Ihr Obmann im Wahlprüfungsausschuss, Patrick Schnieder (CDU), warf der Ampelkoalition vor, sich aus Angst vor Mandatsverlusten auf eine kosmetische Korrektur zu beschränken. »Sie rechnen das Fiasko klein«, klagte er. Der Justiziar der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, wies das zurück und erklärte, man wolle die Wahl nur dort wiederholen, wo es tatsächlich Wahlfehler gegeben habe.
Ob auch die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhauswahl wiederholt wird, darüber wird am kommenden Mittwoch das Berliner Verfassungsgericht entscheiden. In der mündlichen Verhandlung zeichnete sich bereits ab, dass das Gericht wohl eine komplette Wiederholung anordnen wird. Spätestens 90 Tage nach der Verkündung der Entscheidung müsste das Landesparlament neu gewählt werden.
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