Dreiste Verharmlosung
Von Marc Bebenroth
Im Prozess am Landgericht Frankfurt am Main um eine Serie rechter Drohschreiben, die mit »NSU 2.0« unterzeichnet worden waren, konnte die Beweiserhebung keine Klarheit über den oder die Verantwortlichen bringen. So beharren alle Seiten auf ihrer Sicht der Dinge. Der Angeklagte Alexander M. aus Berlin bestritt am Donnerstag erneut »jede Tatbeteiligung«. Beim Schlussvortrag der Verteidigung sagte der 53jährige, dass »mindestens noch ein Mittäter da sein« müsste. Er forderte für sich einen Freispruch sowie Haftverschonung.
Der Mann, in dem die Anklage den Einzeltäter hinter einer Serie von insgesamt 81 Drohschreiben an Rechtsanwälte, Politikerinnen, Journalistinnen und Personen des öffentlichen Lebens sieht, stellte sich selbst einerseits als Opfer dar. Er sei aus einer Chatgruppe im sogenannten Darknet geworfen worden. Er sei »mächtig in die Pfanne gehauen« worden »in Zusammenarbeit mit der Polizei«. Andererseits verharmloste M. die Drohserie – »das Projekt NSU 2.0« – als bloße »Herumtrollerei auf hohem Niveau«. Unter dem Akt des Trollens wird gemeinhin das absichtliche Äußern völlig zusammenhangloser oder besonders provokanter Kommentare verstanden. Ziel ist meist, beim Gegenüber eine möglichst emotionale Reaktion hervorzurufen, um sich anschließend darüber zu amüsieren.
Die Staatsanwaltschaft hatte am 24. Oktober eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten für den 53jährigen gefordert, der an in Polizeidatenbanken gespeicherte persönliche Daten seiner Opfer gelangt sein soll. Verurteilt werden solle er unter anderem wegen Beleidigung und versuchter Nötigung, Störung des öffentlichen Friedens und Volksverhetzung. Die Anklagebehörde lastet M. darüber hinaus Bombendrohungen gegen Gerichte an. Die Verteidigung argumentierte am Donnerstag vor Gericht, die Anklage sei in ihrem Schlussplädoyer überhaupt nicht auf das Resultat der Beweisaufnahme eingegangen. Ihr gehe es demnach vor allem um »Ablenkung von Missständen in kleinen Teilen der Frankfurter Polizei«.
Zumindest für das erste Schreiben der Drohbriefserie bestünden Zweifel an einer Täterschaft des Berliners, hatte eine Vertreterin der Nebenklage am 24. Oktober erklärt. Die Verteidigung wies auf einen Polizisten des Frankfurter Reviers hin, dessen Rolle in dem Fall nicht hinreichend aufgeklärt worden sei. Gegen den Beamten wird im Zusammenhang mit einer rechten Chatgruppe ermittelt, in der rassistische und antisemitische Inhalte geteilt worden sein sollen. Der Polizist machte im Prozess gegen Alexander M. von seinem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern. Die Verhandlung soll am 17. November fortgesetzt werden. Dann könnte bereits das Urteil ergehen.
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