Endlose Machtkämpfe
Von Wiebke Diehl
Der krisengebeutelte Libanon steht nicht nur ohne Regierung, sondern seit Montag nacht auch ohne Präsident da: Umjubelt von Hunderten Anhängern hat der scheidende 89jährige Michel Aoun bereits am Sonntag den Baabda-Präsidialpalast in Beirut verlassen, obwohl seine sechsjährige Amtszeit offiziell erst am Montag endete. Am Morgen hatte er noch ein Dekret zum Rücktritt der geschäftsführenden Regierung von Nadschib Mikati unterzeichnet.
Vier Wahlgänge
Aoun wirft Mikati, dem es seit den Parlamentswahlen vom 15. Mai nicht gelungen ist, eine neue Regierung zu bilden, schon länger vor, die Forderungen seiner Freien Patriotischen Bewegung (FPB) zu missachten. Dem Schwiegersohn Aouns und FPB-Vorsitzenden Gebran Bassil werden seit langem Ambitionen auf das höchste Amt im Staat nachgesagt. Seine Chancen, gewählt zu werden, stehen allerdings schlecht, was nicht zuletzt an dem langjährigen Bündnis seiner Partei mit der Hisbollah liegt. Im Jahr 2020 belegte Washington ihn – offiziell wegen Korruption – mit Sanktionen.
Bislang können sich die in schwere Machtkämpfe verstrickten politischen Blöcke auf keinen Kandidaten einigen. Bereits vier Wahlgänge sind seit September gescheitert, weil niemand die notwendige Mehrheit der 128 Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die meisten – wenn auch deutlich zu wenige – Wahlzettel entfielen auf Michel Mouawad, ein lauter Kritiker der Hisbollah, der deren Entwaffnung fordert. Da die Hisbollah in den vergangenen Parlamentswahlen zwar ihre parlamentarische Mehrheit verlor, aber weiterhin den größten politischen Block stellt, kann sie gemeinsam mit ihren Verbündeten einen Erfolg seiner Kandidatur verhindern. So warfen in den ersten vier Wahlgängen teils über 60 Parlamentsabgeordnete weiße Zettel in die Wahlurne. Einen eigenen Kandidaten schickten die Hisbollah, FPB und Amal aber bislang nicht ins Rennen.
Die Hisbollah insistiert darauf, die politischen Blöcke müssten sich auf einen Konsenskandidaten verständigen. Das gelte insbesondere angesichts der schweren Krise, in der sich das Land seit Oktober 2019 befindet. Das libanesische Pfund hat 95 Prozent seines Wertes verloren und inzwischen leben dreiviertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.
Nationaler Dialog
Parlamentspräsident Nabih Berri rief derweil zu einem nationalen Dialog auf, um möglichst schnell eine Einigung herbeizuführen. Neben der Hisbollah begrüßte auch Gebran Bassil diese Initiative öffentlich. Allerdings könnte er sich aus dem Gesprächsformat zurückziehen, sollte er sich von Armeechef Joseph Aoun, der als möglicher Konsenskandidat gehandelt wird, in den Hintergrund gedrängt fühlen.
Ohne Präsident und Regierung droht sich die Krise des Landes erheblich auszuweiten. Zwar regelt die libanesische Verfassung, dass die Regierung, die in diesem Fall ohnehin nur eine geschäftsführende ist, auch nach ihrem Rücktritt so lange im Amt bleibt, bis ein neues Kabinett gebildet ist. Allerdings verfügt sie nur über eingeschränkte Befugnisse. Das Machtvakuum im Präsidialpalast wird die Regierungsbildung aller Wahrscheinlichkeit nach weiter erschweren. Denn der Präsident hat im Libanon nicht nur die Befugnis, Gesetze zu unterzeichnen. Er benennt auch Ministerpräsidenten und gibt grünes Licht für die Bildung von Regierungen, bevor das Parlament darüber abstimmt. Umgekehrt muss die Regierung die Aufgaben des Präsidenten übernehmen, wenn dessen Amt nicht besetzt ist. Und das kann im Zedernstaat lange dauern: Aoun wurde 2016 erst nach 45 gescheiterten Wahlgängen und 29monatiger Vakanz des Amtes zum Staatspräsidenten gewählt. Auch die Bildung der letzten libanesischen Regierung hat mehr als ein Jahr in Anspruch genommen.
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