Ein verhängnisvoller Irrtum
Von Sabine Lueken
»Mein Urgroßvater war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz. Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel.« Shelly Kupferberg, die Berliner Journalistin und Moderatorin, 1974 in Tel Aviv geboren, hat sich – angestoßen durch Funde auf dem Hängeboden ihrer Großeltern sowie eine Tagung über Naziraubkunst und Provenienzforschung – auf Isidors Spuren begeben. Herausgekommen ist eine romanhafte, lebendige Erzählung, verwoben mit dem Bericht ihrer Spurensuche, eigenen Erinnerungen, Fragen, Zitaten aus Briefen und Dokumenten. Zuweilen nimmt sich die Autorin auch die Freiheit zu fiktionalisieren.
Selbstbewusst und ehrgeizig
Die Geschichte Isidors ist die eines beispiellosen und auch beispielhaften sozialen Aufstiegs aus einer armen, ultraorthodoxen jüdischen Familie aus einem entlegenen »Schtetl« in Ostgalizien zum Multimillionär, »Kommerzialrat« und Kunstmäzen in der K.-u.-k.-Metropole Wien: Dr. Isidor Geller, Jurist, Sohn von Betja Geller und Eisik Judenfreund in Lokutni, heute Ukraine, nichtehelich geboren nach weltlichem Recht, vier Geschwister – und alle schafften den Weg aus der Armut. Damit waren sie nicht allein. Wirtschaftlicher Aufschwung, Modernisierung und die Erlaubnis zur Migration machten es Juden aus Osteuropa um die Jahrhundertwende möglich, die Chance zum sozialen Aufstieg zu ergreifen.
Als Israel Geller 1908 in Wien aus dem Zug stieg, legte er den Namen, der seine jüdische Herkunft verriet, ab und nannte sich fortan Isidor. Wissbegierig, selbstbewusst und ehrgeizig saugte der 22jährige alles in sich auf, Kunst, Musik, Theater, das Leben in Cafés und Nachtklubs. Neben dem Jurastudium arbeitete er im Ledergroßhandel, brachte es binnen kurzem zum leitenden Direktor der »Häute- und Lederzentrale AG«, wo er während des Ersten Weltkriegs als unabkömmlich galt, und wurde ein gemachter Mann. Er wohnte in der Beletage eines Palais an bester Adresse im 1. Wiener Bezirk in zehn Zimmern, prächtig ausgestattet mit Flügel, Kunst, Bibliothek und persischen Teppichen. Er hatte Bedienstete, gab Bankette, fuhr in die Sommerfrische nach Bad Ischl. Zweimal glücklos verheiratet, hatte er eine bildschöne ungarische Sängerin zur Geliebten.
Bevor Kupferberg von Isidor erzählt, zitiert sie aus Briefen ihres Großvaters Walter Grab, Isidors Neffen. Darin berichtet Grab von seinem Besuch in Wien im Jahr 1956. Er ist begeistert von »Kultur, Politik, Tradition, Europa« und überlegt, aus Tel Aviv in die Stadt zurückzukehren, in der er seine ersten 19 Lebensjahre verbracht hatte. Er klingelt an der Tür der alten Wohnung, die Hauswartsfrau öffnet und ruft – »kreidebleich« – in die Wohnung hinein: »Der Jud’ is wieda doa!« Und schlägt dem Besucher die Tür vor der Nase zu. Damit ist Walters Entscheidung gefallen.
Walter ist der Sohn von Isidors Schwester Fejgel, die sich in Wien Franziska nannte, und ihrem zweiten Mann Emil Grab. Walter gelang 1938 als erstem der Familie die Flucht nach Palästina. In Israel wurde er nie so recht heimisch: »Ich kam nicht aus Zionismus, sondern aus Österreich!« Kupferberg erinnert sich, dass der Großvater – er war da bereits ein berühmter Historiker, bekannt unter anderem für seine Forschungen zur Französischen Revolution und zu den deutschen Jakobinern – ihr bei ihren Besuchen in Tel Aviv erzählte, wie er sonntags bei den Mittagessen im Palais seines Onkels als Intelligenz- und Gedächtnisbestie der Crème de la Crème von Wien »vorgeführt« wurde – stets konnte er alle Fragen nach Jahreszahlen und Ereignissen beantworten.
Kupferberg erzählt auch von der »Mätresse« des Urgroßonkels, Ilona Hejmássy, die aus »einem heruntergekommenen Arbeiterviertel in Budapest« stammte. Sie war »Girl« am dortigen Komödientheater, heiratete den Sohn eines ungarischen Gutsbesitzers. Die Ehe ging schief, der Sohn beging Selbstmord. Ilona nahm Gesangsstunden in Wien und lernte Isidor kennen, der sie förderte. Talentscouts der US-amerikanischen Metro-Goldwyn-Mayer-Filmgesellschaft nahmen sie 1938 mit in die USA, dort wurde sie durch eiserne Disziplin zum Hollywoodstar Ilona Massey, inklusive Stern auf dem »Walk of Fame«. Isidor blieb in Wien zurück.
Sachlich brutal
Die Geschichte der Goldfarbs bildet einen Gegenpart. Sie führten eine gutgehende Schneiderwerkstatt in der Wiener Leopoldstadt, wo viele osteuropäische Juden lebten. Kurt Goldfarb war politisch gut informiert, beobachtete mit Sorge den Antisemitismus in Deutschland und sah als einzige Lösung die Emigration nach Palästina. Assimilation hatte er sowieso schon immer sehr kritisch gesehen. Isidor hingegen glaubte, dass man ihm als wohlsituiertem, erfolgreichem Bürger nichts anhaben würde. Ein verhängnisvoller Irrtum. Den Bruch, der mit dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland am 15. März 1938 »binnen weniger Stunden« eintritt, schildert Kupferberg sachlich brutal, und durch den Kontrast zu den zuvor liebevoll ausgemalten Erfolgsgeschichten wird er besonders deutlich.
Isidors Bedienstete verraten ihn, hatten längst eine Aufstellung seines Vermögens an die Nazis weitergegeben. Er wird verhaftet, gefoltert und als gebrochener, schwerkranker Mann entlassen, sein Vermögen muss er den Nazis überschreiben. Er will Ilona nach Hollywood folgen, stirbt aber wenig später elend mit 52 Jahren. Die Schneiderei Goldfarb wird »arisiert«, die Eheleute schaffen es nicht mehr, zu den Söhnen nach Palästina auszuwandern. Kurt stirbt 1943 im Ghetto Litzmannstadt, Ella wird nach Auschwitz transportiert. Franziska und Emil, Walters Eltern, gelingt es mit letzter Kraft, ihrem Sohn nach Palästina zu folgen – mit Isidors Silberbesteck im Gepäck. Alle anderen Dinge, die in der »Vermögenserklärung«, die jeder Jude gegenüber den Nazis machen musste, akribisch aufgelistet sind, sind »verschwunden«, weiß Kupferberg. »Beschlagnahmt. Gestohlen. Geraubt. Ein Mensch wurde ausgelöscht – zunächst materiell, dann physisch. So war es der Plan der Nazis, und so wurde es millionenfach praktiziert.«
Shelly Kupferberg: Isidor. Ein jüdisches Leben. Diogenes-Verlag, Zürich 2022, 248 Seiten, 24 Euro
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