Krisenlast abwälzen
Von Simon Zeise
Nach Auffassung des Chefs der Deutschen Bank droht Deutschland in die Rezession zu rutschen, falls die russische Regierung im Winter den Gashahn zudreht. Doch manchmal geht es schneller, als man denkt. Führt die Bundesregierung ihren ökonomischen Kürzungskurs fort, braucht es für die Misere kein Zutun aus Moskau.
Die jüngsten Daten des Statistischen Bundesamts unterstreichen das. Demnach steckt die BRD in der Stagflation. Die Wirtschaft wächst nicht, und steigende Preise schmälern die Lohneinkommen, damit den Konsum und folglich die Umsätze der Unternehmen. Dabei waren es gerade die staatlichen und privaten Konsumausgaben, die eine Rezession gerade noch verhindert haben. In dieser Situation die Lohnabhängigen mit steigenden Energiepreisen und höheren Kreditkosten zu belasten, würgt die Konjunktur ab.
Für das deutsche Kapital ist das ein Dilemma. Denn das deutsche Exportmodell steht zur Disposition. Im Mai importierten deutsche Unternehmen erstmals seit Jahrzehnten mehr Waren, als sie außer Landes lieferten. Der Anteil der »Waren ausländischen Ursprungs« an den Ausfuhren deutscher Unternehmen ist von 1990 bis 2021 von knapp zehn Prozent auf 24,5 Prozent gestiegen, berichtete die Behörde aus Wiesbaden. Die gedämpfte Produktion in China stellt hiesige Konzerne vor Probleme. Die Rückverlagerung von Lieferketten ist keine ernstzunehmende Option. Die Globalisierung war schließlich deshalb so lukrativ, weil Unternehmen ihre Produktion in Länder mit niedrigeren Lohnniveaus verlagern konnten. Eine »Deglobalisierung« würde Profite empfindlich schmälern. Im Gegenteil gehen deutsche und chinesische Firmen bereits dazu über, Kapazitäten in Drittländer auszulagern.
Die Unternehmer schäumen vor Wut. Die Spitze des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) forderte in einem Brief am Sonntag von der Bundesregierung ein radikales politisches Umsteuern in allen Bereichen. »Aktuell verliert Deutschland. Die Energiepreise explodieren, viele Rohstoffe sind knapp und wegen der nachlaufenden Lieferschwierigkeiten durch Corona haben wir es zusätzlich mit Versorgungsengpässen bei Halb- und Fertigwaren zu tun.« Die Globalisierung sortiere sich neu. Der Wettbewerb der Standorte laufe nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Ende Februar unter völlig anderen Vorzeichen ab. Der Wohlstand stehe auf dem Spiel. Der DIHK fordert steuerliche Entlastungen und Subventionen für die Industrie. Die Programme von BDA und BDI sehen Rentenkürzungen und eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit vor. Das Krisenmodell wollen sie weiterführen, bezahlen dafür aber sollen andere.
Anfang der 2000er, als Deutschland von Unternehmerverbänden in einer Medienkampagne als »kranker Mann Europas« bezeichnet wurde, folgte der Frontalangriff auf die Arbeiterklasse im Rahmen der Agenda 2010. Die vorfindliche Situation ist beängstigend ähnlich.
Sommerabo
Die Tageszeitung junge Welt ist 75 Jahre alt und feiert dies mit dem Sommeraktionsabo. Du kannst 75 Ausgaben für 75 Euro lesen und täglich gut recherchierte Analysen zu tagesaktuellen Themen erhalten. Schenke dir, deinen Freundinnen und Freunden, Genossinnen und Genossen oder Verwandten ein Aktionsabo und unterstütze konsequent linken Journalismus.
Ähnliche:
- Michele Tantussi/REUTERS04.05.2022
Berlin umgarnt Modi
- Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa22.04.2022
Russland-Exporte brechen ein
- Sven Hoppe/dpa04.03.2022
Autoindustrie ausgebremst
Regio:
Mehr aus: Ansichten
-
Streckbank des Tages: AKW-Debatte
vom 01.08.2022