Hass statt Prinzipien
Von Sebastian Edinger
Schon witzig, als die schwarz-gelbe Koalition 2011 den Atomausstieg beschloss, waren die Grünen – einst Anti-AKW-Partei Nummer eins – in der Opposition. Dafür dürfen sie nun in Regierungsverantwortung den Wiedereinstieg mitgestalten. So wie sie davor schon die Reaktivierung von Kohlekraftwerken durchgebracht haben, nachdem ihnen im Wahlkampf kein Ausstiegsszenario schnell genug ging. Man muss unweigerlich an die damalige Spitzenkandidatin und heutige Außenministerin Annalena Baerbock denken, wie sie zwischen abgestorbenen Bäumen im Harz steht und fleht: »Ihre Stimme entscheidet über die letzte Regierung, die aktiv Einfluss auf die Klimakrise kann, bevor es zu spät ist.«
Mancher mag das so verstanden haben, als sollte man die Grünen wählen, wenn einem die Klimarettung am Herzen liegt. Dabei hatte die Parteiführung bereits im Wahlkampf lautstark gegen die Erdgaspipeline Nord Stream 2 gewettert und dafür geworben, lieber das schmutzige, teure Frackinggas aus den USA auf schweren Tankern über den Atlantik schiffen zu lassen. Eigentlich war längst klar: Die Russophobie des Spitzenpersonals hat einen weitaus größeren Einfluss auf die Politik der Grünen als die Umweltliebe von Teilen der Parteibasis.
Nun endlich ist auch die 180-Grad-Kehrtwende der früheren »Sonne statt Reagan«-Partei in Sachen Atomkraft in vollem Gange. Dabei hieß es noch Mitte Juli von Wirtschaftsminister Robert Habeck und Parteichefin Ricarda Lang, es würde in der gegenwärtigen Situation überhaupt nichts bringen, die drei verbleibenden Meiler weiterzubetreiben. Schließlich habe man ein Gas- und kein Stromproblem. Wenig später konnten laut Lang »Umstände eintreten«, die eine Laufzeitverlängerung erforderlich machen würden. Und Habeck faselt von einem »Sonderszenario«, in dem die letzten Meiler – anders als im schwarz-gelben Atomausstiegsgesetz festgeschrieben – auch über das Jahresende hinaus in Betrieb bleiben könnten.
Ein »Umstand«, der ein solches »Sonderszenario« rechtfertigt, ist wohl die weitere Reduzierung der russischen Gaslieferungen über Nord Stream 1 in Reaktion auf deutsche Beiträge zur Eskalation des Ukraine-Kriegs, etwa mittels Waffenlieferungen und Sanktionen. Ironischer Weise sind es an vorderster Front die grünen Regierungsmitglieder, die ebendiese Eskalationslinie am radikalsten vertreten und damit selbst das Comeback der Atomenergie forcieren.
Die neue »rote Linie« der Parteiführung ist der Ankauf zusätzlicher Brennelemente. Den soll es nicht geben, schließlich würde er einer Laufzeitverlängerung über mehrere Jahre gleichkommen. Statt dessen sollen die Restbestände langsamer abgebrannt werden. Man könnte nun Wetten abschließen, wie lange diese Linie gültig bliebt. Für die von den Koalitionspartnern angepeilte Laufzeitverlängerung bis 2024 reichen die vorhandenen Brennstäbe jedenfalls nicht.
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vom 28.07.2022
Mit Kriegsbeteiligungen wurde der Friedensanspruch schon zum zweiten Mal mit den Grünen in der Regierung über Bord geworfen. Nachdem nun auch noch die Weiternutzung der Atomkraft im Raum steht und der Widerstand der Grünen dagegen immer mehr bröckelt, entzieht sich die Partei selbst zunehmend ihrem Fundament. Sie stellt sich auf den Kopf!
Wie aber passt das mit der Aussage von Herrn Habeck aus einem Wahlkampfauftritt 2018 in Bayern (Immenstadt) zusammen: »Wir brauchen keine Parteien, die kein Fundament haben, noch Irrlichter, die irgendwelchen Leuten hinterherquatschen.« Wo bleibt der Aufschrei der Basis der Grünen und der Parteigründer?