Gegenwind für Boric
Von Frederic Schnatterer
Außen hui, innen pfui: So lässt sich der Eindruck von Chiles Präsidenten Gabriel Boric nach zweieinhalb Monaten im Amt zusammenfassen. Am Montag nahm das US-Magazin Time den jungen Staatschef in seine Liste der 100 einflussreichsten Personen der Welt auf. Zur Begründung hieß es, der »Sieg des früheren Studentenführers« bei der Präsidentschaftswahl habe »einen Richtungswechsel für die Wirtschaft Chiles und möglicherweise der Welt markiert«. In der Nacht seines Wahlerfolgs habe Boric versprochen: »Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, wird es ebenso dessen Grab sein!«
Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter feierte die KP-Abgeordnete und Regierungssprecherin Camila Vallejo, deren Partei zusammen mit der Frente Amplio die Kandidatur von Boric unterstützt hatte, die Time-Nominierung des Präsidenten als »Anerkennung für die gesamte Regierung«. Doch während Boric im Ausland Anerkennung genießt, hat sich der Wind in Chile selbst gedreht. Die Euphorie, die seinen Amtsantritt am 11. März begleitete, ist mittlerweile verflogen. Das zeigt das Ergebnis einer Umfrage, die das Unternehmen Cadem am Sonntag veröffentlichte. Demnach unterstützen nur noch 38 Prozent der Chileninnen und Chilenen die Amtsführung von Boric. 50 Prozent lehnen sie ab.
Das versucht die Rechte zu nutzen. Am Montag plädierten laut einem Bericht des Radiosenders Biobío Chile mehrere Abgeordnete des Verfassungskonvents dafür, im Falle einer Ablehnung des Grundgesetzentwurfs im Referendum am 4. September weitere Änderungen am Text zu erarbeiten. Dadurch hoffen rechte Kräfte, neoliberale Elemente in der Verfassung zementieren zu können. Denn: Mittlerweile scheint selbst ein Nein zu dem Text möglich – vor wenigen Wochen ein noch undenkbares Szenario. Im Oktober 2020 hatte sich eine überwältigende Mehrheit der Chilenen für eine neue Konstitution ausgesprochen. Diese soll den noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973–1990) stammenden Text ablösen. Auch die »Mitte-links«-Regierung von Boric ist darum bemüht, sich als radikalen Neuanfang zu inszenieren, im Rahmen dessen mit dem Erbe der Pinochet-Diktatur vollends gebrochen wird.
Das gelingt jedoch nur teilweise. Im Wahlkampf hatte Boric noch mit dem Versprechen um Stimmen geworben, er werde den von der rechten Vorgängerregierung unter Sebastián Piñera im Oktober 2021 über die südliche Araucanía verhängten Ausnahmezustand, der traditionell von den Mapuche-Indigenen beanspruchten Region, aufheben. Im März zog die Regierung das Militär zwischenzeitlich ab. Am Montag der vergangenen Woche dann die Kehrtwende: Innenministerin Izkia Siches erklärte, in Reaktion auf die Gewalt im Zusammenhang mit Gebietsansprüchen der Mapuche werde die Armee in die Region Araucanía sowie in zwei Provinzen der Region Biobío zurückkehren. »Wir haben beschlossen, alle Instrumente einzusetzen, um die Sicherheit zu gewährleisten«, so Siches gegenüber der Presse.
In der Region fordern Angehörige der Mapuche das ihnen im Zuge der Kolonisierung gestohlene Land zurück – teils auch mit Gewalt. So kam es laut der Regierung der Araucanía in den 50 Tagen vor der erneuten Verhängung des Ausnahmezustands zu insgesamt 122 »Attentaten«, wobei es sich meist um kleinere Brandanschläge auf Infrastruktur von Forstunternehmen oder Großgrundbesitzern sowie um Straßenblockaden handelt.
Siches bekräftigte zwar, die Regierung fühle sich trotz der Verhängung des Ausnahmezustands weiterhin dem Dialog mit den Mapuche verpflichtet. Dass die Gesprächsbereitschaft bei den Indigenen angesichts der Militarisierung ihrer Heimat groß ist, darf jedoch angezweifelt werden. Mapuche-Organisationen und solidarische Netzwerke äußerten Kritik an der »rassistischen« Maßnahme, die die Lage eskalieren lasse. Besonders radikale Gruppen wie die »Coordinadora Arauco Malleco« riefen angesichts der Ankündigung zu bewaffnetem Widerstand gegen die als »Besatzungstruppen« verstandenen Einsatzkräfte auf.
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