»Gefängnisse sind eine Sonderwirtschaftszone«
Interview: Fabian Linder
Sie wurden als Sachverständiger bei der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts Ende April zu Gefängnislöhnen angehört. Was hat es mit den verhandelten Klagen auf sich?
Die beiden Beschwerdeführer aus NRW und Bayern klagten um die monetäre Vergütung. Wir haben hier Löhne zwischen einem und drei Euro pro Stunde, wobei es auch Bundesländer mit Lohnstufen unter einem Euro gibt. Den Klägern war dies zu wenig und die Löhne nicht angemessen. Die Klagen laufen seit 2016.
Ihre Gefangenengewerkschaft ist gegen diese Praxis der Ausbeutung. Welche Konsequenzen hat die niedrige Bezahlung?
Wir kritisieren auf jeden Fall, wie die Vergütung stattfindet und deren Höhe. Es geht darum, den Strafvollzug so gut wie möglich an die Bedingungen des freien Lebens anzuknüpfen. Das passiert damit aber nicht. Die Justiz versucht hier immer, mit Resozialisierung zu argumentieren. Wir sehen das in dieser Form der Vergütung nicht als Resozialisierung. Das einzige, was die Justiz mit dieser Entlohnung vermittelt, ist, dass sich ehrliche Arbeit nicht auszahlt. Durch die Löhne ist es Gefangenen nicht möglich, Verantwortung zu übernehmen, also Opfer zu entschädigen, Schulden oder Unterhalt zu bezahlen.
Gefangene arbeiten in Deutschland zum Großteil für externe Dienstleister. Hauptsächlich sind das große Firmen, die in den Justizvollzugsanstalten produzieren lassen, weil sie erkannt haben, dass Gefängnisse eine Sonderwirtschaftszone sind. Man hat Zugriff auf günstige Arbeitskräfte, ohne Sozialabgaben zu zahlen. Den Unternehmen geht es mehr darum, sich die Taschen vollzumachen, und die Justiz trägt das mit. Auch weil diese Ausbeutung oft sehr intransparent ist, wenn es darum geht, sich einen Einblick in diese Praxis zu verschaffen.
Der Deutsche Anwaltsverein etwa betonte zwar die Notwendigkeit »angemessener Vergütung«, spricht sich aber auch klar gegen Mindestlöhne aus. Es solle durch eine Kommission geprüft werden, wie eine angemessene Vergütung aussieht. Wie stehen Sie hierzu?
Da stellt sich mir zunächst die Frage, aus wem denn so eine Kommission besteht. Wir haben auch bei den zwei Verhandlungstagen mit den vielen Sachverständigen gemerkt, dass das, was gesagt wird, von Menschen kommt, die weit weg sind vom Vollzug, die keinen Bezug haben dazu. Die Betroffenen werden allerdings nicht wirklich gehört. Wir waren die einzigen mit diesem Bezug, die dort sprechen konnten. Es war nicht einmal den Beschwerdeführern möglich, selbst das Wort zu haben. Diese wurden anwaltlich vertreten.
Als nächstes muss man fragen, was denn angemessen ist. Dazu gibt es völlig unterschiedliche Sichtweisen. Wir sagen klar: Der Mindestlohn für arbeitende Inhaftierte ist eine gute Bemessungsgrundlage, bei der auch die Rentenversicherung mit einbezogen werden kann.
Woher rührt der Unterschied zwischen den Bundesländern?
Jedes macht, wie es möchte. Das ist noch der Föderalismusreform von 2006 geschuldet. Dadurch ging die Zuständigkeit für den Justizvollzug auf die Länder über. Aus den einzelnen Justizgesetzen ergeben sich auch die entsprechenden Vergütungsverordnungen. Da gibt es Bundesländer mit Lohnstufen eins bis fünf und manche mit Stufen von eins bis sechs. Da wurden Lohnstufen hinzugefügt, um noch weniger zahlen zu können.
Wie fällt der europäische Vergleich aus?
Es gibt etwa europäische Vollzugsgrundsätze, dennoch ist dies sehr unterschiedlich geregelt. Der deutsche Strafvollzug sollte sich eher an skandinavischen Ländern orientieren. Diese haben verstanden, wie Vollzug funktioniert, und das System gewandelt.
Ein Urteil wird es erst in einigen Monaten geben. Was erwarten Sie sich davon?
Wir gehen davon aus, dass es eine Veränderung geben wird. 1998 fiel die letzte Entscheidung hierzu, durch das Bundesverfassungsgericht. Eine wirkliche Umsetzung gab es nicht, sondern wurde eher ausgesessen. Auch deswegen besteht Handlungsbedarf. Darüber hinaus ist auch eine zweitägige mündliche Verhandlung mit Sachverständigen nicht so häufig. Das lässt durchblicken, dass der zweite Senat hier gewillt ist, eine Veränderung herbeizuführen.
Manuel Matzke ist Bundessprecher der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO)
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