Von Tür zu Tür
Von Emre Şahin
Im Türkischen beschreibt die Redewendung »Tükürdügünü yalamak« (etwa: das Ausgespuckte lecken) die Situation, in der eine Person entgegen früherer Ankündigungen ihren Widerstand gegen etwas aufgibt und dadurch in manchen Fällen als prinzipienlos erscheint. Auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan trifft das in letzter Zeit besonders oft zu. Voller Selbstüberschätzung, sich mit allen Nachbarstaaten wegen einer vermeintlichen regionalen Führungsrolle anlegen zu können, lag er mit diesen über Jahre im Clinch, bis die daraus resultierende Isolation und die Wirtschaftskrise dafür sorgten, dass Erdogan als Bittsteller von Tür zu Tür laufen musste.
Die Wiederannäherung an die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) – der türkische Präsident hatte Abu Dhabi vorgeworfen, hinter dem Putschversuch von 2016 zu stecken – erfolgte im Dezember. Im März war die Kurskorrektur in den Beziehungen zu Israel an der Reihe und nun also Saudi-Arabien: Am Donnerstag abend reiste Erdogan für einen zweitägigen Besuch in das Königreich auf der Arabischen Halbinsel und traf in Dschiddah den Kronprinzen Mohammed bin Salman. Die nach dem Gespräch veröffentlichte Erklärung der saudiarabischen Nachrichtenagentur SPA, beide Seiten wollen die »Zusammenarbeit in allen Bereichen« ausbauen, war eher allgemein gehalten. Erdogan sprach von einer »neuen Ära der Zusammenarbeit als zwei brüderliche Staaten«.
Nun hofft Ankara auf Investitionen aus dem Königreich. Angesichts der Wirtschaftskrise und der Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr hat Erdogan sie bitter nötig, um im Amt zu bleiben. Vor den Spannungen mit Riad war das Land ein wichtiges Ziel türkischer Exporte, doch 2020 verhängte Saudi-Arabien einen Boykott gegen Waren aus der Türkei, die Exporte gingen um 90 Prozent zurück. Immerhin, die Ausfuhren nehmen wieder leicht zu. Wie das Nachrichtenportal Middle East Eye am 5. April berichtete, stiegen die Exporte im ersten Quartal 2022 um 25 Prozent (auf 70 Millionen US-Dollar) im Vergleich zum Vorjahr. Allein im März stiegen sie um satte 215 Prozent, von 18,5 Millionen auf 58 Millionen US-Dollar.
Grund für die Anspannungen war neben Erdogans Unterstützung für die islamistische Muslimbruderschaft in der Region – die von den Monarchen in Riad als Gefahr für ihre eigene Macht gesehen wird – auch der Fall des saudiarabischen Journalisten Dschamal Chaschukdschi (englisch: Jamal Khashoggi). Der 59jährige Kritiker von Kronprinz bin Salman war am 2. Oktober 2018 im saudiarabischen Konsulat in Istanbul ermordet worden. Dort hatte er einen Termin zur Vorbereitung der Hochzeit mit seiner Verlobten, die türkische Staatsbürgerin ist. Erdogan erklärte nach dem Mord, Chaschukdschi sei im Konsulat auf »niederträchtige Art und Weise zum Märtyrer« gemacht worden und die Aufklärung sei eine »moralische Verpflichtung«. Anfang April dann die Kehrwende: Das Verfahren in Istanbul gegen 26 saudiarabische Staatsbürger wurde plötzlich ausgesetzt und die Akte an Riad überstellt. Somit war der letzte Stolperstein für die Annäherung aus dem Weg geräumt worden.
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