Das gesprochene Wort
Von Annuschka Eckhardt
Der modrige Geruch alter Bücher, der leicht chemische Geruch neuer Bücher. Wo ein zerfledderter Dostojewski neben einem glänzenden Do-it-yourself-Upcycling-Ratgeber steht. Wo verzweifelte Studierende auf literaturbegeisterte Senioren treffen. Bibliotheken sammeln, erschließen, bewahren und machen Informationen verfügbar. Sind sie Orte der Ruhe oder Orte der Begegnung?
Die Mittelpunktbibliothek Köpenick liegt im Berliner Osten in der Altstadt Köpenick nahe der Müggelspree. 100 Kilometer Bücher gibt es hier. Vom Fenster des oberen Stockwerks ist das Wasser zu sehen, Jürgen Polinski sitzt auf einem schwarzen Ledersofa und erzählt von seiner Kindheit in der DDR. Er hat ein rotes Fotoalbum mitgebracht, dass sein Vater für ihn gebastelt hat. Vom Kindergarten bis zur Einladung zur Jugendweihe 1969 sind alle Schritte eingeklebt – Fotos, Zeitungsausschnitte, Zeugnisse. In der neunten Klasse hatte Polinski in Turnen nur eine Drei. Daneben klebt ein Ausschnitt zur Ausstellung »Kämpfer und Sieger – 20 Jahre DDR«. »Das war aber alles ziemlich politisiert«, bemerkt eine Teilnehmerin. »Wir bewegen uns immer in einem politischen Kontext«, antwortet Polinski und streicht über eine Blume von den Weltfestspielen, die sein Vater ausgeschnitten und in das Album geklebt hat.
Bei der Veranstaltungsreihe »Lebendige Kiezbibliothek« werden die Bibliotheken im Berliner Osten zu Begegnungsstätten. Die lebendige Bibliothek besteht aus Menschen statt aus Büchern – Menschen mit Geschichten. Die Nachbarinnen und Nachbarn mit ostdeutscher Biographie oder Migrations- und Fluchtgeschichte teilen ihre Erzählungen mit Interessierten.
Eine Etage tiefer, ebenfalls in der Mittelpunktbibliothek Köpenick, spricht ein anderes menschliches Buch. Aswad Mako ist Jeside und erzählt vom 3. August 2014, als der sogenannte IS in den Sengal in Südkurdistan einmarschierte, wie er es schaffte auszureisen und vom Leben in der größten jesidischen Diaspora. Mehr als 200.000 Jesidinnen und Jesiden leben in der BRD. Die Zuhörenden werden ganz still.
Entstanden ist die Idee zur lebendigen Kiezbibliothek, als die Migrationsforscherin Naika Foroutan 2018 sagte, dass Ostdeutsche und migrantische Personen eine ähnliche Form von Ausgrenzung und Identitätsverlust erleben würden. Organisiert wird die Veranstaltungsreihe von Interaxion (offensiv ’91 e. V.), Willkommensbüro und Wohnraumberatung für Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung in Treptow-Köpenick, und der Initiative Offene Gesellschaft e. V.
»Es ist wie eine Art Therapie, eine Kur«, sagt Polinski, der zu DDR-Zeiten selbst in der Bibliothek der Humboldt-Universität arbeitete. Die Idee sei gut, findet Polinski, der als »Buch« bei der Veranstaltung ist und seine Geschichte erzählt hat, »auf das Ursprüngliche zurückzukehren, das gesprochene Wort«.
lebendige-kiezbibliothek.de
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