Diplomatie war einmal
Von Reinhard Lauterbach
Die meisten EU-Staaten haben ihre Beziehungen zu Russland deutlich heruntergefahren. Aus der Bundesrepublik wurden 40 Diplomaten ausgewiesen, aus Italien 30, aus Dänemark 15 und aus Schweden drei. Stockholms Außenministerin Ann Linde sagte dazu, man hätte gern noch mehr Russen ausgewiesen, aber Schweden müsse die Arbeitsfähigkeit seiner eigenen Vertretung in Moskau im Auge behalten. Gewöhnlich folgen auf solche Ausweisungen auch jene von der anderen Seite. Litauen und Lettland forderten die russischen Botschafter in ihren Ländern auf, diese zu verlassen. In Irland beschwerte sich die russische Botschaft beim Außenministerium, dass ihr das Bankkonto gekündigt worden sei und das Öl für Heizung und Warmwasser knapp werde, weil niemand bereit sei, die Botschaft zu beliefern.
Die EU will noch in dieser Woche weitere Sanktionen gegen Russland beschließen. Auf dem Tisch liege ein Sonderzoll auf Öl und Gas aus Russland, um die »Abnabelung« der EU-Staaten zu »beschleunigen«. Außerdem soll der Import von Kaviar und Wodka aus Russland verboten werden. Polen und die baltischen Staaten fordern, die Häfen der EU für russische Schiffe und die Grenzen für russische und belarussische Lkw zu sperren sowie den Bahntransport in Richtung Osten zu unterbinden. Polens Regierungssprecher Piotr Müller sagte am Dienstag, Warschau hätte das schon längst getan, aber leider müsse ein solcher Schritt von allen 27 EU-Staaten beschlossen werden. Zur Begründung sagte er, selbst nach Russland gelieferte Medikamente könnten bei der Armee landen.
Am Dienstag verkündeten die USA eine weitere Maßnahme, um einen »Staatsbankrott« Russlands herbeizuführen. Sie sperrten ein bisher nicht mit Sanktionen belegtes russisches Konto, von dem in dieser Woche Zinszahlungen auf russische Auslandsanleihen beglichen werden sollten. Bisher war dieses bis zum 24. Mai von Strafmaßnahmen ausgenommen. Ein Sprecher des US-Finanzministeriums sagte, jetzt müsse Russland entscheiden, ob es auf seine – soweit noch nicht eingefroren – Devisenreserven zurückgreife oder den Staatsbankrott erkläre. Zuvor hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sein Erstaunen über die Widerstandsfähigkeit der russischen Währung gegen die Sanktionen geäußert. Man »werde sehen, was daraus werde«, brachte er die Ratlosigkeit Brüssels auf den Punkt. Der Rubel-Kurs ist inzwischen wieder auf das Niveau vom 24. Februar gestiegen. Im selben Interview mit einem spanischen Sender vermied es Borrell aber ausdrücklich, für die Vorgänge in der Stadt Butscha den von der Ukraine in diesem Kontext lancierten Begriff »Völkermord« zu verwenden. Dieses Wort solle für »wesentlich Schrecklicheres« reserviert bleiben, so Borrell.
Im Donbass kam heute ein Chemiewerk in der Stadt Rubischne im Bezirk Lugansk unter Beschuss. Durch den Treffer eines mit Salpetersäure gefüllten Tanks oder Kesselwagens bildete sich eine Gaswolke. Anwohner wurden aufgefordert, die Fenster geschlossen zu halten und ihre Häuser nicht zu verlassen. Beide Seiten beschuldigten einander gegenseitig, für die Freisetzung verantwortlich zu sein. Ein Sprecher der Lugansker »Volksmiliz« warf der Ukraine vor, die Chemikalienvorräte absichtlich zu sprengen. Nach seinen Worten lagern in der Fabrik noch 40.000 Tonnen verschiedener Säuren und Chemikalien, deren Freisetzung im Umkreis von 30 Kilometern alles auslöschen könne.
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Ellenbogen ausgefahren
Ausgangslage ist die Verletzung des Gewaltverbots gemäß UN-Charta 2.4 (durch den Angriffskrieg Russlands), welche wegen ihrer Schwere (ius cogens) die Verletzung einer Pflicht gegenüber allen Staaten darstellt (erga omnes). In der Folge sind alle Staaten gegenüber dem Verletzerstaat (Russland) anspruchsberechtigt.
Eigentlich müsste die Ukraine vor den Sicherheitsrat ziehen und dort Recht bekommen, damit dieser Zustand sofort beendet wird und Russland Wiedergutmachung leisten muss. Da Russland bekanntlich selbst eine Vetomacht ist, können faktisch keine Rechtsfolgen (Verurteilung, wirtschaftliche Sanktionen, militärische Intervention etc.) verabschiedet werden.
Eine andere Möglichkeit, diesen völkerrechtswidrigen Zustand zu beenden und Wiedergutmachung zu leisten, sind zwischenstaatliche Zwangsmaßnahmen: Staaten haben grundsätzlich eine Verantwortlichkeit für rechtswidriges Verhalten (Einstehenmüssen für die Verletzungen völkerrechtlicher Pflichten; siehe: Rechtsquellen im Gewohnheitsrecht, »Germany vs. Poland«, »Phosphates in Morocco«; sowie festgeschrieben im ILC Entwurf vom Dez. 2001 in der Resolution 56/83, die für ebendieses Gewohnheitsrecht eine Interpretationshilfe bietet).
Gemäß ILC Art. 40 und 41 sollen Staaten zusammenarbeiten, um einen besonders rechtswidrigen Zustand (Verletzung des ius cogens) zu beenden, dabei darf kein Staat diesen Zustand als legal ansehen. Als Folge dürfen Staaten Gegenmaßnahmen ergreifen, was aktuell geschieht (diese sind nicht rechtswidrig nach Art. 22 ILC, wenn 49.ff ILC gegeben sind, also: völkerrechtswidrig, gegen Verletzerstaat gerichtet, ultima ratio, verhältnismäßig). Das ist m.E. der Fall. Nun dürfen Sie gerne dagegen argumentieren, wenn Sie denn wollen...
Die in Berlin ankommenden ukrainischen Flüchtlinge werden gut betreut. Die Frauen und Kinder, die in Berlin Zuflucht finden, machen einen zufriedenen Eindruck und werden bestens betreut. Die Kinder werden sogar beschult von ukrainischen Lehrern und deutschen Hilfskräften.
Jeder hat jetzt gehofft, dass bald ein Waffenstillstand einkehrt und anschließende Friedensgespräche stattfinden. Die Spendenbereitschaft in der deutschen Bevölkerung hat merklich nachgelassen. Da kommt eine Sensationsmeldung wie das Massaker von Butscha gerade zur rechten Zeit. Eine hohe Zahl an toten Menschen wurde an den Straßenrändern gefunden. Natürlich können sie nur von russischen Soldaten ermordet worden sein. Ein US-amerikanischer Satellit hat die Toten aus großer Höhe identifiziert. Angaben über die Toten und die Umstände ihres Todes sind vage und widersprüchlich. Jetzt ist ein Grund gefunden, die Volksseele wieder zum Kochen zu bringen, Botschaftsangehörige auszuweisen, Konten zu sperren, und wir sind dem dritten Weltkrieg wieder ein Stückchen näher gerückt.
Seit Skripal und Navalny stehe ich allen Anschuldigungen gegen Russland sehr skeptisch gegenüber, besonders wenn sie dem normalen Menschenverstand zuwiderlaufen. Dazu hat mich der ehemalige Außenminister Heiko Maaß gebracht.
An Dirk Sch.: Bitte hören Sie sich die Rede von Wladimir W. Putin vor dem Deutschen Bundestag 2001 an oder lesen Sie das Transkript (https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966), dann wird Ihnen vielleicht klar, was mit dem offenen Raum gemeint ist. Der Skizzierung des europäischen Hauses hat man im Bundestag damals applaudiert, die Politik der folgenden 20 Jahre war jedoch nicht auf den gemeinsamen(!) Hausbau gerichtet.
2. Niemand von linker Seite hat jemals behauptet, was Putin tut sei »links« bzw. Putin hätte linke Ziele, geschweige denn Putin sei ein Linker. Wenn dem so wäre, wäre er nicht so beliebt bei Rechten. Das was Leute wie Sie als Putinversteherei oder Russlandversteherei ansehen, resultiert ja (in aller Regel) nicht aus politischer oder persönlicher Sympathie für Putin oder dessen Politik.
3. Ich habe noch in keinem Artikel der jW die Behauptung gelesen, dass der Krieg der Selbstverteidigung diene oder gerechtfertigt ist, und ich tue das auch nicht, es ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, weil Russland militärische Gewalt ohne Mandat des Sicherheitsrates anwendet und es auch keine Selbstverteidigung ist. So wie es die Amerikaner regelmäßig auch tun, um ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Das gibt den Russen nicht das Recht es auch zu tun, aber man braucht nicht so tun, als ob die Russen das erfunden hätten.
4. Was für jeden denkenden und kritischen und vor allem linken Geist eine Selbstverständlichkeit sein sollte, ist, die Welt nicht nur in Schwarz und Weiß zu teilen und kritisch zu bleiben, erst Recht wenn die im Kern gerechtfertigte Empörung über die russische Aggression von den Herrschenden in NATO-Affirmation und Rüstungsorgien gelenkt wird. Da mitzumarschieren ist ganz sicher auch nicht »links«.
5. Ihrer Logik zu Folge sollte man also auch die diplomatischen Beziehungen zu den USA abbrechen, weil diese ja auch regelmäßig gegen das Gebot »Nie wieder Krieg« verstoßen? Meinetwegen.
6. Und das mit Lissabon haben Sie doch wohl nicht ernsthaft wörtlich so verstanden, dass die Russen ganz Europa erobern wollen? Ich bitte Sie.