Macron zum zweiten
Von Hansgeorg Hermann, Paris
Sozusagen in letzter Sekunde: In einem offenen »Brief an die Franzosen« hat sich Staatschef Emmanuel Macron am Freitag morgen selbst zum Kandidaten der Präsidentschaftswahl am 10. April ernannt. Anmeldeschluss war am selben Tag um 18 Uhr. Die Kandidatur – schriftlich einzureichen und ergänzt mit dem Nachweis von mindestens 500 Patenschaften und Unterschriften gewählter Mandatsträger – verlangt das französische Wahlgesetz sogar von einem Staatschef im Amt. Gegen ihn treten elf Frauen und Männer aus politischen Lagern an, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Für die ganz links stehende Neue Antikapitalistische Partei (NPA) ist es – zum zweiten Mal – Philippe Poutou, am ganz rechten Rand wartet Éric Zemmour. Allen ist gemein, dass sie in knapp fünf Wochen gegen Macron chancenlos sein dürften.
Der »Präsident im Krieg«, wie mehrere Medien des Landes Macron seit Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine nennen, als kämpfe der selbst an vorderster Front, ließ es in seinem Schreiben an Tiefgang fehlen. »Ich bin Kandidat«, informierte er die 68 Millionen Franzosen, »um mit euch angesichts der Herausforderungen des Jahrhunderts eine einzigartige französische und europäische Antwort zu entwickeln. Ich bin Kandidat, um unsere Werte gegen alle Unregelmäßigkeiten der Welt, die sie bedrohen, zu verteidigen.« Es folgte die übliche Eloge scheidender Regierungschefs auf die eigenen Leistungen und das Versprechen, »das soziale Modell« Frankreichs »zu schützen und zu verbessern«.
Letzteres ist ein bemerkenswerter Widerspruch zu seiner mit einem guten Quantum Verachtung geäußerten Einschätzung der Sozialdienste. In vertraulicher Ministerrunde am 13. Juni 2018 – ein Jahr nach seinem Amtsantritt – mokierte sich der »Präsident der Superreichen«, wie ihn die Pariser Sozialwissenschaftler Monique und Michel Pinçon-Charlot anschließend tauften, in Gassenhauermanier: »Man schleust eine Wahnsinnskohle in die sozialen ›Minima‹ (Untiefen, jW), die Leute sind trotzdem arm. Die Leute, die arm geboren werden, bleiben arm.« Interpretiert wurde Macrons Spruch im Land nahezu einhellig als Absage eines ehemaligen Bankers an ein quasi nutzloses Netz staatlicher und gesellschaftlicher Solidarität mit den Armen und hilflos Gemachten.
Eine Wahlkampagne will Macron nicht mehr starten. »Im Kontext« des Ukraine-Kriegs sei das für seine Konkurrenten möglich, nicht aber für einen amtierenden Präsidenten – den einzigen Staatschef, der noch Zugang zum russischen Präsidenten Wladimir Putin habe. Auch zu einer TV-Diskussionsrunde mit allen Kandidatinnen und Kandidaten, üblich seit 2012, will Macron nicht antreten. Sein wichtigster und einziger im Fernsehen übertragener öffentlicher Auftritt als Wahlkämpfer bliebe demnach das sogenannte Duell mit einer zweiten Person, die sich am 10. April für die Stichwahl am 24. April qualifiziert hätte. Dass Macron den zweiten Durchgang erreichen wird, steht längst außer Frage – seine Umfragewerte steigen, seit er in den Medien des Landes zum »Anführer Europas« und Putins Gegenpart stilisiert wurde, der Abstand zu den anderen wächst.
Zieht man die Umfrageergebnisse der Demoskopen zu Rate, dann wird, wie es aussieht, seine Gegnerin, wie schon 2017, Marine Le Pen heißen. Die Anführerin der bislang faschistische Züge zeigenden Bewegung Rassemblement National hat ihre Partei in den vergangenen Jahren nach allgemeiner Einschätzung »entdiabolisiert« und damit einen Teil der bürgerlichen Rechten absorbiert. Le Pen auf den Fersen bleibt der Faschist Éric Zemmour, der die gesamte Linke hinter sich gelassen hat, von der Sozialdemokratin Anne Hidalgo bis hin zu Jean-Luc Mélenchon, dem Kopf und Kandidaten der Bewegung La France Insoumise (LFI).
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Macrons logisch und inhaltlich idiotische Formulierung von 2021 – »ohne zivile Atomkraft keine militärische und ohne militärische keine zivile« – sollte wohl ausreichen, den maßlosen Dummschwätzer notfalls mit Holzpantinen aus dem Élysée-Palast in die Seine zu treiben. Ich hatte gehofft, die mittlerweile zwei konkurrierenden Faschist*innen, Le Pen junior und Zemmour, könnten etwa gleich wenig absahnen, so dass weder sie noch er zweitplaziert würde und folglich von einer demokratischen Alternative zu Macron da noch ernsthaft die Rede sein könnte. Auch verstand ich nie, wieso gerade Frankreich nach bitterstem Leiden unter dem deutschen Faschismus inzwischen permanent an seiner eigenen Faschismusvariante basteln muss. Schade, dass es zeitlich nicht mehr reicht, vielleicht schnell noch Selenskij zu importieren, den Nordwestukrainer mit dem schweren Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS): Auf ein solches Trio infernale verteilt, hätten die Stimmen der ungebildeten, bäurischen Provinzler in Frankreich doch noch im ersten Wahlgang verpuffen können. Aber so?