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Aus: Ausgabe vom 30.06.2021, Seite 2 / Inland

Verfahren gegen Wagenknecht begonnen

Düsseldorf. Gegen die frühere Linken-Bundesfraktionskovorsitzende Sahra Wagenknecht hat am Dienstag in Nordrhein-Westfalen ein Parteiausschlussverfahren begonnen. Über einen entsprechenden Antrag von vier Parteimitgliedern verhandelt die Landesschiedskommission schriftlich und unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie der NRW-Landesverband von Die Linke mitteilte. Anfang Juni war bekanntgeworden, dass Mitglieder aus Wagenknechts Landesverband einen Antrag auf ihren Parteiausschluss gestellt hatten. Sie werfen der Politikerin vor, der Partei schweren Schaden zugefügt zu haben. Wagenknecht selbst verwahrt sich gegen den Vorwurf. (AFP/jW)

  • Leserbrief von Prof. Hans-Dieter Sill (2. Juli 2021 um 16:41 Uhr)
    Hier ein paar Gedanken zu einem der jüngsten Steine des Anstoßes, der Veröffentlichung »Die Selbstgerechten« von Sahra Wagenknecht. Die Wörter »linksliberal« und »Linksliberalismus« spielen in diesem zwölften Buch aus ihrer Feder eine zentrale Rolle. Sie grenzt sich aber von der üblichen Verwendung dieser Wörter ab, ohne dass sie klar sagt, was diese Wörter nun bei ihr bedeuten sollen. Ein weiterer zentraler Begriff ist der der »Lifestyle-Linken«, ein offensichtlich von ihr kreierter Neologismus. Besonders problematisch an diesem Wort ist aus meiner Sicht, dass nicht einzelne Auffassungen von Personen charakterisiert, sondern Personen und Personengruppen, als Ganzes mit einem Etikett versehen, in eine Schublade gesteckt werden. Das Wort »links« verwendet Wagenknecht einerseits in sehr weitem Sinne für soziales Engagement, und andererseits grenzt sie es von Bestrebungen zu revolutionären gesellschaftlichen Veränderungen ab. Mit Problemen verbunden ist ebenfalls der von ihr oft verwendete Begriff »Identitätspolitik«. Aufgrund der genannten begrifflichen Probleme bleiben viele der Aussagen im Buch von Sahra Wagenknecht mehrdeutig, unklar oder missverständlich. Das Buch enthält insgesamt keine konkrete und fundierte Auseinandersetzung mit der Partei Die Linke und sollte deshalb in ihren innerparteilichen Debatten nicht überbewertet werden.
    Viele undifferenzierte und zugespitzte Formulierungen, verstärkt durch einen apodiktischen Stil, sind ein Affront gegen alle gegenwärtigen außerparlamentarischen Bewegungen, die sich selbst als progressiv und links verstehen und gegen negative Erscheinungsformen gesellschaftlicher Zustände zahlreiche Aktivitäten entwickeln.
    Zur Herstellung demokratischer Verhältnisse und Änderung der wirtschaftlichen Machtstrukturen sieht Wagenknecht als Lösung das ordoliberale Konzept einer Marktwirtschaft ohne Konzerne an. Diese rückwärtsgewandte Zukunftsvorstellung, die sie als linkskonservativ bezeichnet, ist eine bürgerliche Utopie, eine Affirmation kapitalistischer Produktionsverhältnisse und damit eine Abwendung vom Marxismus. Es bleibt zudem offen, wie ein solcher transformatorischer Prozess realisiert werden sollte.
    Es gibt im Buch von Sahra Wagenknecht keine Ausführungen zu kommunistischen Parteien, zum Antikommunismus in der BRD oder zu Entwicklungen in der DDR. In der angegebenen Literatur gibt es keinen Verweis auf Arbeiten von Hegel, Marx und Engels sowie auf Dokumente der Linken und insbesondere auf Publikationen der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

    Ausführliche Untersuchung unter
    https://philosophie-neu.de/zum-buch-die-selbstgerechten-von-sahra-wagenknecht/
  • Leserbrief von Dieter Leonhardt aus Groß Schönebeck (1. Juli 2021 um 12:39 Uhr)
    Die Linke hat sich im Parteienspektrum entgegen allen Prognosen der Bürgerlichen etabliert, auch durch Sahra Wagenknecht, der in den Medien die Herzen nur so zufliegen. Ihre sachlichen, von brillianter Intelligenz gekennzeichneten Beiträge sprechen nicht nur mich an. Weitere Lobpreisungen erspare ich mir hier. Sie als Ikone der Linken wegzusäubern ist der Traum aller Konsevativen. Die Linke zu bekämpfen kann man sich sparen. Man lasse sie nur machen, sie erledigt sich selbst. Übrigens, bei einer anderen Partei ist ein ähnlicher Vorgang auch zu beobachten.
  • Leserbrief von Peter Mönnikes aus Paderborn (1. Juli 2021 um 12:13 Uhr)
    Ich gehöre leider nicht der NRW-Linken an, kann ihnen also bedauerlicherweise nicht ihr Parteibuch vor die Füße schmeißen. Wer drei Monate vor einer Wahl seine eigene Spitzenkandidatin ausschließen will, für den trifft wohl nur noch das Sprichwort zu: »Je größer der Dachschaden, desto heller der Ausblick!« Diese »Linken« beweisen damit nur, dass sie rein gar nichts begriffen haben, was die Geschichte ihrer eigenen Bewegung betrifft. Sollte einigen noch der Begriff Marxismus geläufig sein, so würde ich ihnen mal anheimstellen, über das folgende Zitat nachzudenken: »Es gehört zum Leben und Gedeihen einer jeden Partei, dass in ihrem Schoß gemäßigtere und extremere Richtungen sich entwickeln und selbst bekämpfen, und wer die extremeren kurzerhand ausschließt, befördert dadurch nur ihr Wachstum. Die Arbeiterbewegung beruht auf der schärfsten Kritik der bestehenden Gesellschaft. Kritik ist ihr Lebenselement, wie kann sie selbst der Kritik sich entziehen, die Debatte verbieten wollen? Verlangen wir denn von den anderen das freie Wort für uns bloß, um es in unseren eigenen Reihen wieder abzuschaffen?« (Friedrich Engels, MEW 37, 328)
  • Leserbrief von E. Rasmus aus Berlin (30. Juni 2021 um 12:32 Uhr)
    Die Darlegungen, die ich aus dem Munde von Sahra Wagenknecht zu verschiedenen Anlässen im Fernsehen wie im Internet wahrnahm, habe ich mit Sympathie aufgenommen. Wie recht doch Sahra Wagenknecht schon mit ihrem Buchtitel »Die Selbstgerechten« hat! Das Parteiausschlussverfahren könnte dies nicht besser belegen. Als ich die Meldung las, war sie ein Grund, mir das Buch zu bestellen. Bislang hatte ich gezögert, weil mir der Preis als Rentner nicht gerade günstig erscheint. Die Anschuldigungen aber gegen Dr. Wagenknecht sind lächerlich und zeugen davon, dass Wahrheiten nicht mehr ins Bild dieser Partei passen. Selbst wenn dem Ausschlussantrag nicht stattgegeben wird, spricht der Akt schon allein dafür, wes (Un-)Geistes Kind die Antragsteller in ihrer Beschränktheit sind. Übrigens: Ich trat im Januar 1990 aus der SED/PDS aus, nachdem Gysi und Co. mit dem erfolgreichen Parteiputsch im Dezember des Vorjahres die Betriebsparteiorganisationen aufgelöst hatten – die Basis, um nicht selbstgerecht zu agieren. Wer sozialistisch in der Freizeit nur sein will, aber im Arbeitsprozess sich einzeln ohne Kollektivgeist Gleichgesinnter durch Ausbeutung und Konkurrenzkampf demütigen lassen muss, ist schizophren beziehungsweise der Heuchelei verfallen. Die Welt ist ein Ganzes, und als solches verlangt sie betrachtet zu werden, vor allem in ihrer Materialität. Individualisten fehlt letztere in ihrem Idealismus, was nur Kleinbürgerlichkeit mit Hang zu Höherem beweist. Auch wenn Sahra Wagenknecht vermutlich selbst nicht so weit geht, so bleibe ich bei Marx, der da »Zur Kritik der politischen Ökonomie« im Vorwort schreibt: »Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ zusammenfaßt, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei.« (MEW Bd. 13, S. 8) Jene Marxsche Wahrheit gehörte ins Parteiprogramm mit der Konsequenz, auf den Boden der Tatsachen zu gelangen. Doch die Kaste der Selbstgerechten vermag eben in ihrer Selbstgerechtigkeit dies nicht zu erkennen.

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