Geliehene Stärke
Von Nick Brauns
Der Wechsel an der Spitze der US-Administration bringt Ankara in Bedrängnis. Der neue US-Präsident Joseph Biden gilt als ausgemachter Kritiker des von ihm als »Autokraten« bezeichneten türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Ein Streitthema bleibt das von der Türkei gekaufte russische Luftabwehrsystem »S-400«. Auch türkische Angriffe auf kurdische Milizen in Syrien, mit denen die USA eine taktische Kooperation zur Rechtfertigung ihres eigenen Verbleibs in der Region pflegen, hatte Biden als »echtes Problem« bezeichnet.
In der Türkei wird die Bevölkerung daher mit Verschwörungserzählungen auf eine Verschlechterung des Verhältnisses mit Washington eingestimmt. Juden seien in der neuen US-Regierung »überrepräsentiert«, beklagen regierungsnahe Medien. Und ein hochrangiger Politiker der Regierungspartei AKP behauptet, Biden sei in Wahrheit ein in Armenien geborener Kurde mit Namen Cimoye Bahattin Aga.
Angesichts der sich abzeichnenden Krise mit Washington bemüht sich die wirtschaftlich deutlich angeschlagene und auf ausländische Kapitalzuflüsse angewiesene Türkei wieder um eine Annäherung an die EU. Im Gasstreit, an dem sich im vergangenen Jahr durch die türkische Kanonenbootpolitik in griechischen Hoheitsgewässern fast ein Krieg entzündet hatte, setzt Ankara nun auf Diplomatie. Bundesaußenminister Heiko Maas sprach von einem »guten Signal für die Stabilität in der ganzen Region« – gemeint ist die Stabilität zwischen den NATO-Partnern Griechenland und Türkei.
Denn jene innerhalb der Türkei beruht auf offener Repression. Nach Massenverhaftungen von Tausenden ihrer Mitglieder steht nun ein Verbot der unter Kurden verankerten linken Oppositionspartei HDP im Raum. Und nach außen setzt die Türkei ihren Krieg niederer Intensität zur Destabilisierung der nordostsyrischen Selbstverwaltungsregion Rojava unvermindert fort. Erst am Sonnabend starben zwei Kinder und eine Frau beim Artilleriebeschuss eines Wohnhauses. Zudem bereitet Ankara laut kurdischen Medienberichten einen Angriff auf die von Jesiden bewohnte Region Sindschar (kurdisch Shingal) im Nordirak vor.
Am gleichen Tag wurde in Istanbul die erste in der Türkei gebaute Fregatte zu Wasser gelassen. Erdogan feierte dies als Erfolg der heimischen Rüstungsindustrie. Dieses Eigenlob erinnert an den IKEA-Kunden, der sich nach dem Zusammenschrauben der fertig gelieferten Teile damit brüstet, den neuen Wohnzimmerschrank selbst gebaut zu haben. Denn die türkischen Werften sind auf die Lieferung entscheidender Komponenten europäischer Rüstungshersteller angewiesen.
Auch die außenpolitische Kraftmeierei der Türkei entspringt nicht innerer Stärke, sondern dem geschickten Lavieren Ankaras zwischen den um seine Gunst buhlenden Mächten der EU mit Deutschland an der Spitze, USA und Russland. Erdogans »Neue Türkei« könnte sich angesichts dieser geliehenen Stärke noch als Kartenhaus entpuppen.
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