Aufklärung von unten
Von Kristian Stemmler
Ein Kriminalhauptkommissar hält eine Rede bei einer »Querdenker«-Demonstration und verharmlost die Nazizeit. Polizeischüler tauschen in einer Whats-App-Gruppe Hitler-Porträts aus. Ein Soldat fällt in der Grundausbildung durch rassistische Sprüche auf. Solche und andere rechte sowie rassistische Vorfälle bei der Polizei, der Bundeswehr, den Geheimdiensten und der Justiz hat die Kampagne »Entnazifizierung jetzt« gesammelt, hinter der die Antifa-AG der Interventionistischen Linken Berlin steht. Am Donnerstag veröffentlichte sie die Ergebnisse auf ihrer Homepage. Der Einfluss von Rechten in den Behörden sei erschreckend, heißt es dort. »Sie bilden Netzwerke und nutzen diese Strukturen zur Unterwanderung unserer Gesellschaft.«
Auch wenn die Fälle sehr unterschiedlich seien, ergebe sich ein bedrohliches Bild, sagte Kampagnensprecher Jan Richter am Donnerstag gegenüber junge Welt. Es werde deutlich, dass es sich bei dem Problem rechter Verstrickungen deutscher Sicherheitsbehörden »keinesfalls nur um wenige Einzelfälle handelt«, wie behauptet werde. Man habe es vielmehr mit einem »systemischen und strukturellen Phänomen« zu tun. Zudem sei eine Zunahme derartiger Vorfälle in den vergangenen Jahren zu erkennen, so Richter. Allein für den Zeitraum von Mai 2020 bis Ende 2020 habe die Gruppe 150 Berichte von entsprechenden Vorfällen registriert. Das bedeute, dass in der BRD etwa alle ein bis zwei Tage über einen solchen Fall berichtet werde. Vermutlich liege die Gesamtzahl noch deutlich darüber.
Mit Blick auf den Namen der Kampagne erklärte Richter, eine Entnazifizierung habe in der BRD nie stattgefunden, in den 1950er und 60er Jahren habe es eher »eine Renazifierung des Landes« gegeben. Rechte Verstrickungen der Behörden seien daher nichts Neues. Heute sei in Teilen der Gesellschaft wieder eine Akzeptanz für rechtes Gedankengut festzustellen, die ein gefährliches Ausmaß erreicht habe, so der Aktivist. Das lasse sich zum Beispiel daran erkennen, dass Polizeibeamte Adressen politischer Gegner am Dienstcomputer abriefen, um diesen Drohmails zu schicken oder die Daten an Neonazis weiterzureichen.
Seit Mai 2020 haben die Aktivisten systematisch Berichte über rechte Skandale in Sicherheitsbehörden gesammelt. Dafür wurden frei zugängliche Medien ausgewertet, Antworten auf parlamentarische Anfragen und vereinzelt auch Berichte von Antifagruppen. »Es war uns wichtig, dass es zu jedem Vorfall einen Beleg gibt«, sagte Richter. Auf der am Donnerstag freigeschalteten Homepage heißt es, die Sammlung solle »zumindest einen kleinen Beitrag für mehr Aufklärung leisten«, da sich politisch Verantwortliche wie das Bundesinnenministerium bislang weigerten, »das Phänomen systematisch zu untersuchen«.
Eine interaktive Karte und eine Zeitleiste bieten einen Überblick über Vorfälle. Eine eigene Rubrik ist rechten Netzwerken wie etwa dem »NSU-2.0«-Komplex oder dem sogenannten Hannibal-Netzwerk gewidmet. Ein Beitrag beschäftigt sich mit der Anschlagserie im Berliner Bezirk Neukölln seit 2016, an deren Aufklärung die staatlichen Behörden bisher wenig Interesse zeigten. Als Berliner Gruppe wolle sich die Kampagne »insbesondere der Forderung nach einer lückenlosen Aufklärung der Rechtsterrorserie in Berlin-Neukölln anschließen, auf die nicht nur die Betroffenen schon viel zu lange warten«, heißt es auf der Homepage.
Die Kampagne will auch weiterhin Berichte über rechte Vorfälle in den Behörden sammeln und ruft dazu auf, bei der Recherche zu helfen. Wer von Fällen von »Nazis in Polizei oder Justiz vor Ort« wisse, einen Zeitungsbeitrag zum Thema gelesen oder eigene Erfahrungen damit gemacht habe, könne einen entsprechenden Hinweis in das im Internet bereitgestellte Formular eintragen.
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