Rotlicht: Wirtschaftskriminalität
Von Carmela Negrete
Was macht eigentlich jene Handvoll wegen Korruption verurteilter Mitbürger, während sie ihre Strafe im Knast absitzt? Häkeln? Onanieren? In Spanien jedenfalls können diese Delinquenten seit neuestem auch an einem »Hilfsprogramm für Wirtschaftskriminalität« (Programa de Intervención de Delitos Económicos) teilnehmen. Den spanischen Behörden zufolge »die erste Behandlung dieser Art weltweit«, soll das Programm Betroffene und Täter zusammenbringen, damit letztere die Folgen ihrer Taten nachempfinden können. Wer mitmacht, soll bessere Haftbedingungen erfahren. Auf die Idee war, nach einem weiteren Anwachsen der Wirtschaftskriminalität, das Innenministerium verfallen.
In rund 30 spanischen Gefängnissen wird das Programm den rund 2.000 wegen Wirtschaftskriminalität Verurteilten angeboten. Erörtert werden sollen dabei unter anderem die eigene Verantwortung und gesellschaftliche Werte: »Was ist der Wert des Geldes? Was stellt Macht mit Menschen an?« Solche Fragen werden in rund 30 Sitzungen diskutiert. Dahingestellt, wie sinnvoll das alles ist, ein solches Angebot existiert in Deutschland nicht. Die Wirtschaftskriminalität, auch »Weiße-Kragen-Kriminalität« genannt, wird laut »Duden Wirtschaft A bis Z« in Westdeutschland seit 1976 als Straftatbestand behandelt. Damit ist allerdings kein spezifisches Delikt bestimmt, sondern eine ganze Reihe von Vergehen: Kreditbetrug und Wucher, Computerbetrug und Fälschung gespeicherter Daten, Kapitalanlagebetrug und Veruntreuung von Löhnen, schließlich die Klassiker Korruption, Menschenhandel, Rauschgifthandel und Schleusertum.
Fast drei Milliarden Euro kosteten diese Delikte den deutschen Fiskus 2019. Doch wenn »Edelknackis« wie Ulrich Hoeneß, der prominenteste Steuerbetrüger Deutschlands, verurteilt werden, sitzen sie gar nicht richtig hinter Schloss und Riegel, sondern dürfen die Zeit im offenen Vollzug verbringen. Die Milde soll angeblich dazu dienen, die Chancen auf eine erfolgreiche »Resozialisierung« zu erhöhen. Reintegration der Vermögenden, die noch mehr haben oder weniger abgeben wollten, in einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz basiert, in der Millionen Menschen erwerbslos sind, weitere Millionen trotz Arbeit arm bleiben und viele Rentner zur Bettelei genötigt werden. Sofern die informellen Werte dieser Gesellschaft Ausbeutung und Ausbootung heißen, wofür einiges spricht, haben die »Wirtschaftskriminellen« sich immer schon wertekonform verhalten. Ihr Vergehen war lediglich, sich erwischen zu lassen. Das Programm, das jetzt in Spanien aufgelegt wurde, mutet deshalb geradezu grotesk an, solange die gesellschaftliche Ordnung am Profit orientiert bleibt.
Auch in der Bundesrepublik sind Skandale wie der von Wirecard oder die Cum-Ex-Geschäfte eher die Regel als die Ausnahme. Im kapitalistischen Kasino verlieren die unteren Schichten, die soziale Ungleichheit wird größer. In den Ländern des globalen Südens agieren transnationale Unternehmen ungehindert in Manier von Desperados, ohne sich um Recht oder »Werte« zu scheren, beuten Menschen bis aufs Blut aus, betreiben Raubbau und engagieren Mörder, um unliebsame Gewerkschafter oder Aktivisten zu ermorden. Das ist die alltägliche »Wirtschaftskriminalität«, die kaum je zum gesellschaftlichen Skandal wird, weil sie in die kapitalistische Betriebsweise eingeschrieben ist.
Das spanische Rehabilitationsprogramm wird aus den »White-Collar-Kriminellen« mit Sicherheit keine Revolutionäre machen, die mit Feuereifer die kapitalistische Ordnung bekämpfen. Doch wer weiß, vielleicht bietet es ja die Gelegenheit, über die Sinnlosigkeit, die Ungerechtigkeit und die Scheinheiligkeit eines Systems zu sprechen, das als Ganzes vor allem eines ist: wirtschaftlich kriminell.
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