Bloß nicht den Kopf verlieren
Von Pierre Deason-Tomory
Weimar, 12. Januar 2021. Der ewig gleiche Shutdowntrott in meinem Officehome ist am Dienstag plötzlich unterbrochen worden. Morgens um acht klopfte es laut an meiner Wohnungstür, und eine Männerstimme rief laut: »Herr Tomory? Herr Tomory?«
Ich fiel aus dem Bett und öffnete, ohne Schlüpper, nur im Hemdchen. Vor mir standen fünf tadellos gekleidete Beamte vom Zoll, zeigten mir einen Durchsuchungsbeschluss und baten mich, eine Hose anzuziehen. Es geht um einen Verdacht auf Schwarzarbeit in einem kleinen Industrieunternehmen, bei dem ich ein Jahr lang als geschäftsführender Buchhalter angestellt war.
Aber ich muss mir keine Sorgen machen. Erstens denke ich nicht, dass in dieser Firma schwarzgearbeitet wird. Und zweitens war ich dort nur im Jahr 2016 beschäftigt, und der Verdacht bezieht sich auf die Jahre 2017 bis 2019. Sie fanden entsprechend auch nichts, was sich mitzunehmen lohnen würde – nun ja, außer etwas Marihuana.
Also kamen zwei Polizisten hinzu und mussten noch einmal alles durchstöbern. Ich fragte die wirklich sehr freundliche Beamtin, ob sie mir nicht wenigstens ein paar Krümel dalassen könne, damit ich nach dem ganzen Trubel einen zur Entspannung rauchen kann. Sie lächelte und sagte, dass das leider nicht gehe.
Dann fanden sie noch etwas Ungewöhnliches, das ich erklären musste. Einen alten Totenschädel, komplett mit Kiefer und Zähnen. Der stand bis vor eineinhalb Jahren bei meinem Vater auf der Kommode. Tomory Nándor hatte 1948 als Bausoldat in Ungarn beim Bau einer Kaserne auf dem Gelände eines alten Friedhofs den Schädel eines 15jährigen Mädchens ausgegraben.
Er nahm den Kopf mit nach Hause und migrierte mit ihm 1963 in den Westen. Später wurde der Schädel Mitglied unserer Patchworkfamilie und Spielkamerad vom kleinen Pierre. Mutter wollte ihn schließlich nicht mehr im Haus haben, also nahm ich ihn im Rucksack mit nach Weimar. Ich darf ihn behalten. Schädelhaltung ist legal und hat in der Klassikerstadt Tradition.
Goethe hatte lange einen Schädel auf dem Schreibtisch stehen, von dem er fälschlicherweise annahm, er sei Schillers. Und Schillers vorgebliche Gebeine in der Fürstengruft konnten inzwischen per DNA-Test gleich mehreren anderen Personen zugeordnet werden. Das kommt davon, wenn man verstorbene Dichterfürsten erst einmal in ein Massengrab kippt.
Dieses hübsche Detail fehlt in dem kleinen Artikel der Weimarer Lokalzeitungen, der schon am Mittwoch über den zufälligen »Cannabisblütenfund« in der Nordvorstadt berichtet hat. Dafür hat der Autor den Delinquenten ein Jahr älter gemacht, als er ist – ich feiere erst in einigen Tagen meinen 52. Geburtstag nicht. Auf eine Gegendarstellung werde ich dennoch verzichten.
Es waren übrigens kultivierte Zollbeamte. Der eine sah interessiert die Titel meiner Sachbücher durch, der andere guckte, welche Romane ein bekiffter 50jähriger so liest. Sie haben auch kein Chaos angerichtet und Masken und Handschuhe getragen und an den Schuhen Überzieher.
Peinlich war mir der Zustand meiner Wohnung. Ich hatte am Vorabend eine Freundin zu Besuch gehabt und vor dem Zubettgehen Geschirr und Bierflaschen herumstehen lassen, außerdem haust bei mir derzeit eine große, wohlgenährte Wollmäusepopulation. Ich sagte beim Abschied, sie sollen beim nächsten Mal anrufen, dann mache ich vorher sauber.
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