»Auffällig dubios«
Von Kristian Stemmler
Wer gedacht hat, die Räuberpistole um den Giftanschlag auf den im »Westen« hofierten, in seiner Heimat aber bedeutungslosen russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ließe keine neue Umdrehung mehr zu, sieht sich in den letzten Tagen vor Weihnachten getäuscht. »Nawalny telefoniert mit seinem Auftragskiller« oder »Kreml-Kritiker legt mutmaßlichen Attentäter herein« lauteten die Schlagzeilen großer deutscher Medien am Montag und am Dienstag. Damit hat die Affäre um den in die BRD ausgeflogenen Nawalny, die die ohnehin zerrütteten Beziehungen zwischen Berlin und Moskau zusätzlich belastet, endgültig das Niveau alberner Fake-Anrufe erreicht, wie sie Radiosender veranstalten, um ihre Hörer bei Laune zu halten.
Erst wenige Tage zuvor hatte unter anderem der Spiegel »Rechercheergebnisse« vorgelegt, mit denen ein allem Anschein nach zur kontinuierlichen verdeckten Überwachung Nawalnys eingesetzter Trupp des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB zum »Killerkommando« umgedeutet wird. Und die Bundesregierung zeigt sich entschlossen, diesen Spin mit eisernen Mienen weiter durchzuziehen: Am Mittwoch erklärte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, er empfinde diese Berichte »als Bestätigung«.
Leise Zweifel
Bestätigt wird dadurch aber allenfalls, dass Maas zu jeder politisch nützlichen Bodenlosigkeit bereit ist. Nawalny hatte am Montag im Internet den Mitschnitt eines Telefonats vom 14. Dezember veröffentlicht, das er mit einem Agenten und Chemiker des FSB geführt haben will. Er habe sich als hochrangiger Mitarbeiter des russischen Sicherheitsrates ausgegeben, der wissen wolle, warum der Anschlag gescheitert sei, so die Darstellung Nawalnys. So habe er erreicht, dass der Mann seine Beteiligung an dem Giftanschlag eingeräumt und weitere Einzelheiten genannt habe.
Nun müssten jeden Beobachter, der sich auch nur ein wenig mit der Arbeitsweise von Geheimdiensten befasst hat, mindestens leise Zweifel an der Behauptung beschleichen, ein offenbar hartgesottener, mit einem politischen Mord beauftragter Agent habe mal eben – noch dazu am Telefon! – einer ihm völlig unbekannten Person erzählt, wie die ganze Sache sich zugetragen hat. Insbesondere dann, wenn man die auch von »westlichen« Geheimdiensten immer wieder betonte Disziplin und Professionalität der russischen Gegenseite in Rechnung stellt. Sämtliche Konzernmedien sprangen dennoch wie auf Kommando auf den Zug auf, übernahmen und kommentierten das Video. Als »Gespräch mit dem eigenen Attentäter« bewarb der Nachrichtensender N-TV das Filmchen und übersetzte eine der Fragen von Nawalny an den angeblichen Agenten mit den Worten: »Wo war die größte Konzentration des Giftes?« Der antwortet: »In der Unterhose« – und ergänzt dann noch, Nawalny habe wohl nur deshalb den Anschlag überlebt, weil der Flug unterbrochen und er umgehend medizinisch behandelt worden sei.
Offensichtlich ist das Video als eine Art Teaser gedacht, der die Aufmerksamkeit weiter auf das lenken soll, was der Spiegel, das britische Portal »Bellingcat«, der US-Sender CNN und das russische Portal »The Insider« Ende vergangener Woche veröffentlicht hatten. Danach sollen an dem Anschlag in der russischen Stadt Tomsk im August Mitarbeiter des FSB beteiligt gewesen sein, die einer für Chemiewaffen zuständigen Abteilung des Geheimdiensts angehören.
Offene Leitung
Die russische Reaktion auf Nawalnys »Telefonstreich« kam postwendend. Der FSB bezeichnete das Telefonat noch am Montag abend als Fälschung. Es sei eine »geplante Provokation«, teilte der Dienst nach Angaben der Agentur Ria Nowosti mit. Es würden Ermittlungen eingeleitet. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte zuvor in seiner Jahrespressekonferenz zu dem »Bellingcat«-Bericht gesagt, dieser sei eine »unlesbare Kompilation«, die auf US-Geheimdienstinformationen beruhe.
Tobias Pflüger, stellvertretender Bundesvorsitzender der Partei Die Linke, bezweifelt den Wahrheitsgehalt von Nawalnys Video. Die Art und Weise, wie hier vorgegangen worden sei, sei doch »auffällig dubios«, erklärte er am Mittwoch gegenüber jW. So wirke es unglaubwürdig, dass ein Mann, der Mitarbeiter eines Geheimdienstes sein soll, so ausführlich über eine offene Leitung zu einem solchen Vorgang Auskunft gibt. Auch die Rechercheergebnisse von »Bellingcat« müssten mit Skepsis betrachtet werden. Vieles, was zur Affäre Nawalny geschrieben und gesagt werde, sei »ganz offensichtlich interessengeleitet«, so Pflüger.
Schnelle Behandlung
Das sieht Maas ganz anders. Die Rechercheergebnisse seien »weder neu noch überraschend«, sagte er gegenüber dpa. Sie bestätigten die Auffassung der Bundesregierung, dass Nawalny von russischen Agenten vergiftet worden sei. Die EU habe Strafmaßnahmen »gegen die politisch Verantwortlichen eines schweren Bruchs des Chemiewaffenübereinkommens« verhängt. Immerhin: Es werde jetzt aber keine neuen Sanktionen geben.
Unterdessen veröffentlichte die Charité am Mittwoch ein »achtes und abschließendes Statement« zur Behandlung Nawalnys. Es sei bei Nawalny »eine schwere Vergiftung mit einem Cholinesterase-Hemmstoff diagnostiziert« worden, heißt es darin. Am 2. September 2020 habe die Bundesregierung mitgeteilt, dass eine durch die Charité veranlasste Untersuchung in einem Labor der Bundeswehr den Nachweis des Nervengiftes Nowitschok erbracht habe. Dieser Befund wiederum sei von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) bestätigt worden. Mit Einverständnis Nawalnys habe das Ärzteteam der Charité einen Behandlungsbericht in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht.
Laut dpa zeichnen die Mediziner in dem Artikel auf vier Seiten nach, welche Symptome sie beobachtet haben. Demnach fiel Nawalny in ein Koma, der Herzschlag verlangsamte sich, die Körpertemperatur sank auf 34,4 und zeitweise auf 33,5 Grad Celsius. Die Ärzte verglichen die Wirkungsweise des mutmaßlichen Nervengifts mit der von Organophosphaten, die zur chemischen Schädlingsbekämpfung eingesetzt werden. Sie vermuten, dass Nawalny überlebte, weil er nach Einsetzen der Symptome sehr schnell behandelt wurde – unter anderem mit dem als Gegengift genutzten Atropin und mit künstlicher Beatmung. In Russland.
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Leserbriefe zu diesem Artikel:
- Norbert Staffa, Großolbersdorf: Unterstes Niveau Welch unteres Niveau müssen Medien fahren, eine solche Räuberpistole loszulassen? (Überall am 22.12.2020) Da ruft der »wichtigste Kremlkritiker« Nawalny den abgefeimten Schurken vom FSB incognito an, ...
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Debatte
Also, ob die Charité noch einen ganz abschließenden Bericht folgen lassen wird oder ob sie ihren Ruf riskieren wird.
Bis man für die eine oder andere Seite stichhaltige Belege hat, sollte man doch keine der beiden Möglichkeiten ausschließen. Dass Putin behauptet, dass es Russland nicht war, ist kein stichhaltiger Beleg.
Und warum sollte der gute Mann nicht unbedarft über diese nebensächliche »Aktion« plaudern, was sollte ihm schon passieren.
Das Schönste am Doofsein ist das Gemeinschaftsgefühl.
Eine Person, die ich seit Jahren im Blick habe, erkenne ich sofort an ihrer Stimme. Warum auch nicht? Weil mir was bitte unbekannt ist – die Art und Weise, die andere Seite, die Laune der Stimme? Oder werde ich von einer Person antelefoniert, die mir unbekannt ist? Wohl kaum. – Richtig ist auch der Zweifel, seit wann Mensch eine Quelle anruft, ehe sie sich davor schützt, bevor das Telefonat beginnt.
Das dazu.
Spannend finde ich, wann das Telefonat stattgefunden haben soll: am 14. Dezember? Warum wurden diese neuen Infos erst später (nach sieben Tagen) verbreitet?
Ein Vorschlag: Frau Daubner aus der »Tagesschau« kann kyrillische Buchstaben lesen. Dann wird der Name des Mannes endlich richtig ausgesprochen.
Ich meine, alleine dass Nawalny selber diesen Anruf tätigt! Warum? Er ist doch relativ prominent, besonders bei den FSB-Agenten, die ihm doch ständig auf den Fersen sind und vermutlich seine Telefonate abhören, also bestens wissen sollten, wie er am Telefon klingt.
Allerdings wird so daraus halt ’ne super Story: Nawalny selber telefoniert mit seinem Auftragsmörder! Was für ’ne Geschichte!
Ach ja, und das beweist zwar gar nichts, aber die Frage kann man schon mal stellen: Wer hat bisher am meisten von dieser ganzen Geschichte profitiert? M. E. Nawalny selber. Er sollte sich bei Putin dafür bedanken, was Besseres hätte ihm ja kaum passieren können, nicht nur, dass er das überlebt hat, er hat’s meines Wissens auch völlig folgenlos überlebt und kann jetzt als Putins Gegner Nummer eins mit neuem Schwung durchstarten.
1.) Da gibt es drei unabhängige Institute in Westeuropa, die unisono bestätigen (auf Anweisung hin etwa?), es handele sich bei dem Nervengift um Nowitschok. Wenn es denn wirklich dieser Giftstoff war, warum dann bitte wird das Ergebnis unter Verschluss gehalten und nicht den sowjetischen Untersuchungsbehörden ausgehändigt? Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
2.) Ja, und dann die Räuberpistole: Ein Agent des russischen Inlandsgeheimdienstes will gegenüber Nawalny am Telefon gestanden haben, ihn, Nawalny, umbringen zu wollen. Das hört sich wie aus der verstaubten Mottenkiste des Geheimdienstes an, klingt so unglaublich, dass man am Verstand einiger Leute zweifeln dürfte. Auch an dem des BRD-Außenministers Maas, der dieser Aussage Glauben schenkt und das auch noch in der Öffentlichkeit wortgewaltig kundtut. Jeder geistige Schwachsinn wird politisch zum Anlass genommen, Sanktionen gegen Russland zu begründen.
3.) Wäre es Russland wirklich daran gelegen gewesen, einen Kritiker mundtot zu machen, wäre Nawalny wohl kaum in die BRD ausgeflogen worden.
Zweierlei Dinge, zweierlei Maß: Politische Urteile der türkischen Willkürjustiz wie das kürzlich erlassene bringen Herrn Maas keineswegs auf die Barrikaden. Still im Kämmerlein und möglichst auf Twitter wird das »Bedauern« über dieses Unrecht zum Ausdruck gebracht. Man sollte eigentlich davon ausgehen, dass ein Außenminister wie Herr Maas über genügend Intelligenz und eigenständiges Denken verfügt, nicht immer das von sich zu geben, was politisch offenbar opportun erscheint, sondern auch seinen eigenen Verstand einsetzt – und zwar ausgewogen.