Hoffen auf den Fortgang der Geschichte
Von Erich Hackl
Was soll man mit einem Buch anfangen, in dem sündige Gedanken umgehen, Herzen freudig schlagen und Hände lebhaft ergriffen werden? Es zuschlagen, in die Ecke pfeffern! Daran hindert einen allerdings die doppelte Gegenwärtigkeit, die Stefan Pollatscheks Roman »Pest« trotz seiner kolportagehaften Elemente beansprucht. Der österreichische Schriftsteller hat in dieser »Tragödie eines Wiener Arztes« nämlich ein lang zurückliegendes Unglück und dessen Instrumentalisierung durch Judenhasser in Presse und Politik aufgegriffen, die mit den antisemitischen Ausschreitungen nach der Besetzung Österreichs durch Nazideutschland im März 1938, nur wenige Wochen nach der Fertigstellung des Romans, traurige Aktualität gewann. Gegenwärtig mutet die Handlung auch heute an, angesichts der Verschwörungsfanatiker, die als selbsternannte Querdenker ihr Unwesen treiben.
Bemerkenswert ist die Genauigkeit, mit der sich der Autor an die historischen Fakten hält: 1897 hatte eine Ärztekommission im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften während einer Pestepidemie in Bombay, dem heutigen Mumbai, Kranke untersucht und nach ihrer Rückkehr mit den mitgebrachten Bakterienstämmen Tierversuche durchgeführt. Durch eigenes Verschulden infizierte sich der Spitaldiener Franz Barisch im Jahr darauf mit Pestbazillen und starb ebenso wie seine Pflegerin Albine Pecha an Lungenpest. Der Arzt Hermann Müller, der die Kommission in Bombay geleitet hatte, war der dritte und letzte Pesttote; aus Pflichtgefühl hatte er sich zusammen mit der unheilbar erkrankten Hilfsschwester in einer Isolierbaracke einsperren lassen. Weder Müller noch seine Mitarbeiter am Forschungsprojekt waren Juden. Trotzdem machten christlich-soziale und deutschnationale Hetzer wie der Wiener Bürgermeister Karl Lueger jüdische Ärzte für den Vorfall verantwortlich, mit der abstrusen Begründung, dass sie »durch Experimente mit den Erregern der verschiedenartigsten Krankheiten sich zu wissenschaftlichen Kapazitäten machen, um dann die für sich gemachte Reklame in Gold umzusetzen«.
In seinem detailreichen Nachwort schildert der Publizist Alexander Emanuely sowohl das bewegte Leben des sozialdemokratischen Schriftstellers als auch die durch die Naziherrschaft verzögerte Wirkungsgeschichte des Romans: »Pest« erschien zwar Anfang 1939 auf Polnisch, aber erst zehn Jahre nach der Niederschrift (und sechs Jahre nach Pollatscheks frühem Tod im britischen Exil) in einem österreichischen Verlag, wenig später auch als Fortsetzungsroman in der Wiener Arbeiter-Zeitung, jeweils unter dem Titel »Dozent Müller« und in einer stark überarbeiteten Fassung des Journalisten Hans Bujak.
Ein prophetischer Satz in Pollatscheks Roman, gesprochen von einem aufrechten, gegen die Hetzpropaganda immunen jungen Arzt, lautet: »Wenn sich diese Anschauungen« – gemeint sind die der antisemitischen Politiker – »durchgesetzt haben werden, dann wird uns die Gegenwart geradezu paradiesisch vorkommen!« Zu Recht beanstandet Emanuely, dass Bujak Stellen wie diese gestrichen hat. Nur frage ich mich, ob er mit der Entscheidung, sich für die vorliegende Ausgabe streng an das Originaltyposkript zu halten, Pollatscheks Ruf und Werk nicht einen Bärendienst erwiesen hat. Zu überdeutlich treten die Intentionen des Autors hervor, zu ausschweifend sind ihm die Dialoge geraten (großartig hingegen zwei »Intermezzi«, in denen er dem Spießer aufs Maul geschaut hat). Längen und Redundanzen zu tilgen, dazu war Pollatschek nicht imstande gewesen. Mit Frau und Kind flüchtete er im Juni 1938 in die Tschechoslowakei, Anfang 1939 weiter nach England. Dort arbeitete er an seinem Hauptwerk, dem epochenüberspannenden Roman »Doktor Ascher und seine Väter«, rastlos trotz seiner angegriffenen Gesundheit, materiellen Notlage und zeitweiligen Internierung als »Enemy Alien« in Norwich und auf der Isle of Man.
Gerade die gründliche Redaktion von Pollatscheks letztem Roman hätte sich als Modell für die Neuausgabe der »Pest« angeboten. Dort war es gelungen, durch Straffen, Umstellen und Korrigieren den Gehalt des Werks »schärfer und plastischer herauszuarbeiten«, wie Konstantin Kaiser anmerkte. Das wurde in diesem Fall leider verabsäumt. Stattdessen war man offenbar bemüht, den Text mit möglichst vielen Kommafehlern zu verschandeln.
In Zusammenhang mit dem »Ascher«-Roman hatte Kaiser auch geschrieben, dass durch den Triumph der Nazis das Vertrauen des Autors in die Geschichte erschüttert worden sei. »Pollatschek glaubte nicht mehr an den geschichtlichen Fortschritt, hoffte aber auf den Fortgang der Geschichte.« Obwohl »Pest« noch vor den nazideutschen Völkermorden entstanden ist, zeugt auch er vom schwindenden Vertrauen seines Autors in die Geschichte. Möglich, dass darin die eigentliche Aktualität des Romans liegt.
Zwei Stunden vor seinem Ableben, am 17. November 1942, hatte Pollatschek den eigenen Nachruf verfasst. Er beginnt mit dem denkwürdigen Satz: »Es ist eine Schande, vor Hitlers endgültiger Niederlage zu sterben, aber mir ist dieses Malheur nun leider passiert.«
Stefan Pollatschek: Pest. Die Tragödie eines Wiener Arztes. Theodor-Kramer-Gesellschaft, Wien 2020, 290 Seiten, 21 Euro
Teste die beste linke, überregionale Tageszeitung.
Kann ja jeder behaupten, der oder die Beste zu sein! Deshalb wollen wir Sie einladen zu testen, wie gut wir sind: Drei Wochen lang (im europ. Ausland zwei Wochen) liefern wir Ihnen die Tageszeitung junge Welt montags bis samstags in Ihren Briefkasten – gratis und völlig unverbindlich! Sie müssen das Probeabo nicht abbestellen, denn es endet nach dieser Zeit automatisch.
Ähnliche:
- OÖ. Literaturarchiv/Adalbert-Stifter-Institut29.01.2020
Erfolglos brisant
- IMAGNO/Picture Alliance20.12.2019
Utopischer Wohnsitz: Sprache
- Crypto Tapas/pixabay26.11.2019
Bruch mit gesättigter Sprache
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Amok und Idyll. Normalbürger im SUV
vom 03.12.2020 -
Immer neu in Fahrt
vom 03.12.2020 -
Was kann die Kunst?
vom 03.12.2020 -
Nachschlag: Fußball statt Pflege
vom 03.12.2020 -
Vorschlag
vom 03.12.2020 -
Es sind die Details
vom 03.12.2020