Wenn da nicht Ulbricht gewesen wäre
Von Egon Krenz
Ende Mai 1959. In Rostock tagte das VI. FDJ-Parlament. Im Präsidium Walter Ulbricht und Genossen. Es geht um die Bildung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Die DDR soll »vollgenossenschaftlich« werden. Spontan meldet sich der gerade 18jährige Erich Postler zur Diskussion. Niemand hatte ihn dazu aufgefordert. Er hat lediglich ein paar Notizen auf einem kleinen Zettel. Postler ist kein LPG-Bauer, sondern Lehrling auf dem elterlichen Hof und Vorsitzender der FDJ-Gruppe seines Dorfes. Die Aufmerksamkeit für seine Rede wurde bald von Unruhe und Murren abgelöst. Die vom Vorteil der LPG überzeugten Delegierten wollten keine Kritik zu diesem Thema hören, weder zum eingeschlagenen Weg der Agrarpolitik der SED noch zur Art seiner Verwirklichung. Nicht nur, dass Postler den mangelnden Einfluss der FDJ auf die Jugendlichen der privaten Landwirtschaft bemängelte – er nahm auch kein Blatt vor den Mund, was die Art der Überzeugungsarbeit anbetraf. Er geißelte inhaltslose Agitation. Seine Kritik gipfelte in der Feststellung, dass kein junger Bauer Lust hat, in eine LPG einzutreten, wenn rings um sein Dorf die Genossenschaften nicht effektiv wirtschaften.
Damit hatte er in ein Wespennest gestochen. Wahrscheinlich wäre seine FDJ-Laufbahn zu Ende gewesen, bevor sie richtig begonnen hatte, wenn da nicht … Ja, wenn da nicht Walter Ulbricht gewesen wäre, der am nächsten Tag zur Diskussion sprach: »Ihr habt hier die Darlegungen des Jugendfreundes gehört, der noch auf dem Hof eines Einzelbauern arbeitet. Er hat aufgezeigt, wie kompliziert es ist, die wohlhabenden Mittelbauern zu gewinnen. Einige von euch haben geknurrt, als er hier sprach. Aber er hatte recht, dass er hier offen alle diese komplizierten Fragen der Entwicklung des Einzelbauern zum Eintritt in die LPG dargelegt hat. Das ist doch nicht leicht. Ein solcher Jugendfreund soll den alten Besitzer dieses Bauernhofes überzeugen, dass er in die LPG geht. Wie kann er ihn überzeugen? Am besten dadurch, dass in diesem Ort die LPG schnell entwickelt wird und zu solch hohen Arbeitseinheiten kommt, dass die Bauern sagen: Jawohl, wir gehen in die LPG«.*
Aus dem Einzelbauernsohn Postler wurde ein »Staatlich geprüfter Landwirt« und aus dem FDJ-Dorfgruppenleiter 2. Sekretär des FDJ-Zentralrates. Später war Postler 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung im Industrie- und Agrarbezirk Schwerin, und in der Wendezeit 1989 leitete er die SED-Parteiorganisation des Bezirkes Gera. Uns verbindet seit mehr als 60 Jahren eine feste Freundschaft. Er ist in all den Jahren sich und seiner Überzeugung treu geblieben. Am heutigen Mittwoch wird Erich Postler 80 Jahre alt. Auf die nächsten Jahrzehnte bei guter Gesundheit, lieber Freund!
* Protokoll des VI. Parlaments der FDJ, 1959, Verlag Junge Welt, Seite 361
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Leserbriefe zu diesem Artikel:
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