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Aus: Ausgabe vom 22.01.2020, Seite 3 / Schwerpunkt

Regierung spielt ahnungslos

Man muss nicht studiert haben, um zu wissen, dass es menschenunwürdig ist, einem Mittellosen die wenigen unabdingbaren Mittel zum Essen und Wohnen zu entziehen, wenn er nicht pariert. Doch 15 Jahre lang hatte die Bundesregierung mit der Hartz-IV-Sanktionspraxis eben dies verordnet. Die politisch Verantwortlichen wissen genau, dass sehr junge und psychisch beeinträchtigte Menschen besonders häufig und drastisch von Jobcentern bestraft wurden. Dass viele deshalb auf der Straße landeten, aus der Krankenversicherung fielen, hungern und betteln mussten, gesundheitliche Schäden erlitten, war bekannt.

Diese Auswirkungen geben sogar zahlreiche Studien schwarz auf weiß wieder. Anfang 2017 zitierten schließlich sogar die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages aus solchen Analysen. Doch der gleiche Staat, der an anderer Stelle für seine akribische Bürokratie mit Statistiken für alles mögliche bekannt ist, tut sich schwer, das selbst verursachte Elend offenzulegen.

Bis heute verweigert die Bundesagentur für Arbeit (BA) zum Beispiel Statistiken dazu, wie vielen Menschen die Jobcenter tatsächlich pro Jahr das gesamte Existenzminimum alias Hartz IV gestrichen hatten. Auf immer neue Anfragen dieser Zeitung hin kamen bislang regelmäßig nur Monatsdurchschnittswerte. Etwa über vollsanktionierte 15- bis 17jährige. »Nur« rund 200 betroffene Minderjährige gab es danach und insgesamt, die Älteren mitgerechnet, zuletzt etwas mehr als 7.000 Totalsanktionierte. Danach berechnete die BA ihre Quote: knapp 0,2 Prozent. So schönt man Zahlen und redet dramatische Folgen der eigenen Politik klein.

Bis heute hat sich daran nichts geändert, wie Linksparteichefin Katja Kipping am Montag anhand einer Regierungsantwort konstatierte. Sie hatte gefragt, wie viele Menschen 2018 nun tatsächlich von den jeweiligen Sanktionshöhen von zehn, 30, 60 und 100 Prozent betroffen waren. Die Reaktion der Bundesregierung war von derselben Qualität, wie sie auch jW jahrelang bekam: Ein Zahlenwerk aus Monatsdurchschnittswerten und Quoten, welches das wahre Ausmaß verschleiert. Leider gebe es keine anderen Zahlen, heißt es.

Selbst nach dem Karlsruher Urteil, welches Hartz-IV-Kürzungen von über 30 Prozent für verfassungswidrig erklärt, könne »die Regierung keine konkreten Angaben machen, wie bisherige Regeln umgesetzt wurden«, kritisierte Kipping. Man müsse sich vergegenwärtigen, mahnte sie: »Die bisherigen Bundesregierungen haben verfassungswidrige Sanktionsregeln zu verantworten, und die Folgen können nicht einmal exakt beziffert werden.« (sbo)

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