Atomare Energiewende
Von Hansgeorg Hermann, Paris
Der französische Stromgigant EDF (Électricité de France) hat am Mittwoch eine neue Erhöhung der Kosten für den Bau des »Europäischen Druckwasserreaktors« (EPR) in Flamanville (Département Manche) angekündigt. Ursprünglich zum Preis von drei Milliarden Euro angeboten, wird die Installation des dritten Atommeilers auf der Cotentin-Halbinsel nach Angaben des Staatsbetriebs nun mindestens 12,4 Milliarden Euro verschlingen. Der EPR ist der wichtigste Bestandteil des französischen Nuklearprogramms. Staatschef Emmanuel Macron hatte zu Beginn seiner Amtszeit zwar eine »Energiewende« versprochen, in deren Rahmen der aus Atomenergie gewonnene Strom auf 50 Prozent statt der bisher rund 72 Prozent heruntergefahren werden solle. Völlig verzichten will der bis Mai 2021 gewählte Präsident auf die Kernkraft allerdings nicht. Sie wird nicht zuletzt für die Produktion atomwaffenfähigen Materials gebraucht. Frankreich besitzt nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde derzeit bereits rund 31 Tonnen hochangereichertes Uran.
Macron steht im eigenen Land längst unter dem Verdacht, die Kostenexplosion – »das Fiasko«, wie französische Zeitungen schrieben – beim EPR nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil er der verdeckten Finanzierung und Erneuerung des Atomwaffenprogramms dienen könnte. Sein Umweltminister Nicolas Hulot, zuständig für die im Wahlkampf 2017 angekündigte »Transition énergétique«, war im Juni des vergangenen Jahres zurückgetreten, weil er ein »Abgleiten« des Atomsektors ins Ungewisse nicht mitverantworten wolle. In einer im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz erklärte Hulot damals: »Wir haben uns in diesen ökonomisch und technisch völlig nutzlosen Wahnsinn verrannt.« Seine Demission verband er mit dem Hinweis, die EDF werde vermutlich auf den Bau von vermutlich sechs neuen Reaktoren drängen, sobald er die Regierung verlassen habe.
Mit der Konstruktion des EPR in Flamanville war im Dezember 2007 begonnen worden, Fertigstellung und Inbetriebnahme waren zunächst für 2012 geplant. Seither korrigierte die EDF, die zu knapp 85 Prozent dem Staat gehört, alle zwei Jahre ihre Kostenrechnung und das Datum der Fertigstellung. Der Reaktor soll nun voraussichtlich 2023 ans Netz gehen, was Experten am Donnerstag im TV-Kanal France Info bezweifelten. Die gegenwärtigen Verzögerungen sind nach Angaben der EDF aktuellen Problemen im Sicherheitssystem geschuldet. Die Rede war zu Beginn der Woche von mindestens 68 »fehlerhaften Schweißnähten« und Kühlwasserleitungen, die nicht den geforderten Ansprüchen genügten. Acht der schadhaften Schweißnähte befänden sich an entscheidenden Stellen: innerhalb der doppelten Betonkuppel. Eine nach Angaben der französischen Sicherheitsbehörde ASN von der Gesellschaft angebotene »kleine Lösung«, die einen einigermaßen termingerechten Abschluss der Bauarbeiten in diesem Jahr ermöglicht hätte, sei abgelehnt worden. Die ASN habe auf den vereinbarten Sicherheitsstandards bestanden.
Der Präsident der Behörde, Bernard Doroszczuk, hatte im Juli dieses Jahres während einer Anhörung vor Abgeordneten der Nationalversammlung die Einstellung und Mentalität der EDF-Verantwortlichen beklagt. Der Staatsbetrieb habe versucht, sich mit »technischen Angaben« aus der Affäre zu ziehen, »statt die notwendigen Reparaturen umzusetzen«. Bei der EDF folgt man inzwischen zwar den Anweisungen der Atomkontrolleure, in der Chefetage lägen seither aber offenbar die Nerven blank, berichtete Le Monde. Die Pariser Tageszeitung zitierte am Mittwoch einen »verzweifelten« Führungskader der Gesellschaft mit den Worten: »Sie (die ASN, jW) kümmert sich nicht um die Sicherheit, sondern verwaltet (statt dessen) die Abläufe.«
Bereits seit dem vergangenen Jahr arbeitet die Regierung Macron an einem Zukunftsprogramm zur Energiegewinnung. Entscheidende Figuren im Kreis der Berater Macrons sind Yannick d’Escatha, früherer Verwaltungschef des Kommissariats für Atomenergie (CEA) und oberster Einflüsterer des EDF-Chefs Jean-Bernard Lévy, sowie Laurent Collet-Billon, ehemaliger Generaldelegierter der Regierung für die Herstellung und Beschaffung von Waffen. Beide seien nun zuständig für den »militärischen wie auch den zivilen Bereich« des französischen Nuklearprogramms, meldete im vergangenen August das Journal du Dimanche. Das Zukunftsprogramm sehe den Bau von sechs neuen Druckwasserreaktoren des Flamanville-Modells in den kommenden zehn Jahren vor – wie von Hulot prophezeit.
Das Programm sieht nach Angaben Hulots vor, im Jahr 2025 den – nach Flamanville – ersten neuen EPR zu konstruieren. Er könnte demnach zehn Jahre später, 2035, ans Netz gehen. Der Bau des zweiten Reaktors solle zwei Jahre nach dem ersten in Angriff genommen werden, danach würden im gleichen Zeitabstand der dritte, vierte, fünfte und sechste EPR folgen. In einer Presseerklärung vom November 2016 hatte die Gesellschaft »Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs« am Beispiel des britischen EPR Hinkley Point C erklärt: »Die These (von Wissenschaftlern, jW) aus Oxford und Sussex, dass es bei diesem gigantischen Geldsegen um etwas anderes, nämlich um die versteckte Finanzierung eines Atomwaffenprogramms, gehen könnte, ist alles andere als abwegig.«
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