Leserbrief zum Artikel Pandemiebekämpfung: Kopfschmerzen wegen »Sputnik V«
vom 19.02.2021:
Der Dümmste wird König
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass diese Gesellschaft unfähig ist, mit Krisen umzugehen, dann liefert Corona das Paradebeispiel. Tatsächlich wirksame Maßnahmen werden elegant vom Tisch gewischt, wie sollte auch ein solidarischer Lockdown zustande kommen, wenn Bundesregierung und Landesfürsten jeden Entscheidungsvorschlag zunächst der ortsansässigen Großindustrie zur Genehmigung vorlegen müssen. Hinweise auf Länder, in denen die Krisenmanagements Früchte tragen, werden je nach Gegebenheit mit Hohn, Spott oder Affektiertheit zur Seite geschoben (Diktatur, Insel, falsche Daten). Welch Demütigung, dass ausgerechnet Russland einen, inzwischen in der Fachpresse dokumentiert, hocheffizienten Impfstoff entwickelt hat? Die Lobbyisten der Pharmaindustrie werden alles tun, um eine alsbaldige Zulassung in unseren Breitengraden zu verhindern. Oder man lässt es sich wie in der Ukraine verbieten, selbigen in Umlauf zu bringen. Sollen doch noch weitere 50.000 Menschen versterben, der Profit ist heilig! Man spricht vom strengen Lockdown … Welcher Lockdown denn? Während Kleinbetriebe, Bildungseinrichtungen, Kulturzentren trotz strenger Hygienemaßnahmen geschlossen bleiben müssen, läuft für die Automobilindustrie alles wie bisher. Jeder Monat Lockdown schafft einem die lästige Kleinkonkurrenz vom Hals. Das Leben der »Upperclass« hat sich dahingehend geändert, dass ihre Beinfreiheit im First-Class-Flieger, mit dem sie durch ihr von der »Underclass« gesponsertes Leben jettet, nochmals zugenommen hat. Auch das derzeit zur Schau gestellte moralische Entsetzen über das Fehlverhalten einiger Politiker bezüglich bereits erfolgter Impfungen ist nichts weiter als eine logische Konsequenz, die sich aus der gesellschaftlichen Konstellation ableitet. Was die technologischen Lobpreisungen der Vergangenheit wert sind, zeigt sich an der Unfähigkeit, auch nach einem Jahr Corona die grundlegendsten organisatorischen Dinge in den Griff zu bekommen. Es ist momentan einfacher, einen Friseurtermin als einen Impftermin für über 80jährige zu bekommen. Lösungen? Ganz einfach: Alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge vergesellschaften! Dazu gehört auch der Bereich Forschung. Umsetzung? Nicht möglich, weil die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlen. Alles andere ist Volksbelustigung. Prinzipiell könnte man Herrn Andreas Scheuer auch als Gesundheitsminister einsetzen. Lediglich sein ihm vorgesetzter Lobbyist wäre ein anderer. Auch die Frage, ob es Sinn macht, einen Bankkaufmann als Gesundheitsminister zu beschäftigen, ist obsolet. Obwohl vermutlich niemand, der Zahnschmerzen hat, zum Gynäkologen gehen würde. An dem alten Grundsatz, dass die Fürsten stets den Dümmsten zum König krönen, hat sich nichts geändert.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 20.02.2021.