Leserbrief zum Artikel Kritik der Geschichtswissenschaft: Berufsbedingte Affirmation
vom 12.10.2020:
Erkenntnis geschleift
Die Deutungshoheit der Geschichtswissenschaft dient allzuoft der Legitimation herrschaftlicher Verhältnisse – so lesenswert dieser Aufsatz ist, so provoziert er geradezu die Frage nach dem Sinn einer geschichtsphilosophischen Annahme der Herausbildung eines emanzipatorischen politischen Subjekts, eines Kollektivsubjekts, dessen für die wissenschaftliche Identitätsfindung zu prognostizierendes Schicksal in der begrifflichen Bestimmung dessen liegt, was erforderliche dialektisch-materialistische Kategorien und Prinzipien einer zukunftsfähigen Gesellschaft sind. Denn werden nicht in Fußnote Nr. 9 geschichtsphilosophische Lehrmeinungen aus einem DDR-Wörterbuch grundlegend verneint, etwa in der Art, dass eine prähistorische Burgruine (DDR-Geschichtswissenschaft) geschleift und gleichzeitig die historisch-materialistische Erkenntnisgewinnung entkernt wird, demzufolge u. a. die historische Mission der Arbeiterklasse ein Mythos sei? Arme Ritter! Da bleibt einem ja wenigstens noch Dantes »Göttliche Komödie«, um mit Marx (1859) zu sagen: »Bei dem Eingang in die Wissenschaft aber, wie beim Eingang in die Hölle, muss die Forderung gestellt werden: Qui si convien lasciare ogni sospetto – ogni viltà convien che qui sia morta.« (»Hier ziemt es, jeden Argwohn zurückzulassen – jede Feigheit muss hier ersterben.«)
Veröffentlicht in der jungen Welt am 15.10.2020.