Leserbrief zum Artikel Kritik der Geschichtswissenschaft: Berufsbedingte Affirmation
vom 12.10.2020:
Aus dem Ruder gelaufen
Was der Autor an Verkommenheit von sich Geschichtswissenschaftler nennenden Hofschreiberlingen schildert, ist ständiges Ärgernis und gehört möglichst laut benannt und ebenso blamiert. In dem Beitrag von Theo Wentzke jedoch fehlen an entscheidenden Stellen Konjunktiv und Anführungszeichen. So irritieren Überschrift und auch Diktion mitunter. Wenn »Leistung historischen Denkens« mit der Reduzierung auf ein phantasiertes »Wir« historischer Subjekte oder die Zwangsläufigkeit »affirmativer Bezugnahme auf die jeweils bestehenden Verhältnisse« schon augenscheinlich einseitig ist, kann es sich wohl kaum um eine wissenschaftliche Leistung handeln – eher wohl um eine Fehlleistung. Nach »Sinn und Zweck der Geschichtswissenschaft« zu fragen ist legitim, nur was tun, wenn es sich beim Gegenstand der Darstellung eben nicht um Wissenschaft handelt? Die Überschrift »Berufsbedingte Affirmation« wird zu allem Überfluss ausgeführt: »Die Affirmation, die ein Historiker quasi berufsbedingt der Gegenwart entgegenbringt, geht so auf vergangene Zeiten über, die er seiner Betrachtung unterzieht.« Geschichtswissenschaft sei angeblich immanent, »gegenwärtige Verhältnisse (zu adeln)«. Nur – wenn dies in aller Einseitigkeit geschieht, handelt es sich eben nicht um Wissenschaft. Wissenschaft hat in ihrer Methodologie nach Entwicklungs- und Bewegungszusammenhängen sehr komplexer Prozesse zu fragen. Unterbleibt das, verkommt alles Geschreibsel zur peinlichen Rechtfertigung und Verklärung von Macht und Herrschaft – das kann dann schnell so sein, ja – aber dann ist jede Betrachtung meilenweit entfernt von einem wissenschaftlichen Anspruch. Man könnte mit dem blödsinnigen (und in seiner politischen Intention gut durchschaubaren) ewigen »Narrativ« von Herfried Münkler und Guido Knopp ergänzen: Mit Wissenschaft von der Geschichte hat auch deren Schaum vorm Maul nichts zu tun! Insofern sei dem Autor Dank! Zu unterstellen jedoch, dass »in welcher weltanschaulich geprägten Form auch immer … (es sich um) Idealisierungen dieser Verhältnisse« handeln würde, ist eine zumindest aus dem Ruder gelaufene These. So hat u. a. das Erschlagen der Leipziger Historikerschule Markov/Kossok nun doch Früchte getragen. Schade!
Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.10.2020.