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Leserbrief zum Artikel Die feinen Unterschiede: Bourdieu und mein Vater vom 01.08.2020:

Von wegen Chancengleichheit

Ich kann das »Leidens-Schulerlebnis« von Soltys Vater bestens nachempfinden. Fünf Jahre älter, Landei in Bayern, hatten wir es vielleicht sogar schwerer mit dem Zugang zur höheren Schule als das Proletenkind der Großstadt. Einen Unterschied Arbeiterkind/Kleinbürgerkind bezüglich der Schwierigkeiten, es aufs Gymnasium zu schaffen und dort zu bestehen, gab es nicht. Wenn mein Vater – unterste Beamtenbesoldung und kinderreiche Familie – nicht bei der Bahn gewesen wäre, hätten wir uns die tägliche Fahrt in das Kleinstadtgymnasium nie leisten können. Ohnehin ein Jahr zu spät, denn der Volksschullehrer, der seinen besten Schüler nicht verlieren wollte, hatte es »vergessen«, den Eltern den Termin für die Aufnahmeprüfung mitzuteilen. Bereits in den ersten Tagen der 1. Klasse der Oberschule begann die Auslese: Der Rektor persönlich schlug das Zahnarztsöhnchen als Klassensprecher vor, dem Metzgerssohn wurden – da zwei Lehrer dort wohl eine Wurst extra bekamen – alle Streiche verziehen, das etwas langsame Geschäftsinhabersöhnchen wurde verhätschelt (und schaffte tatsächlich – nach jahrelanger Dauernachhilfe in Mathematik – das Abitur). »Uns von der unteren Schicht« fehlte die Sprachgewandtheit, Unbekümmertheit der »privilegierten« Kinder; wir waren verkrampft, und die es schafften, wurden hart mit sich selbst und gegenüber anderen. Ich habe noch ein Foto von uns Sextanern: Von 28 schafften acht das Abitur (minus eins, da ich zwischenzeitlich ab Unterprima nach Hessen auf ein moderneres Aufbaugymnasium abgewandert war), aber immerhin ein Arbeiterkind, sieben die mittlere Reife (zwei Arbeiterkinder), 13 gingen vor der mittleren Reife ab (davon neun aus der unteren Bevölkerungsschicht). Ich kann nur bestätigen, dass das damalige Schulsystem keiner Ausbildungs- oder Integrationsfunktion diente, sondern, um mit Bourdieu zu sprechen, der Eliminationsfunktion. Dank Malochen in den Semesterferien und »Honnef« (Vorgänger BAföG) schaffte ich dann sogar den Hochschulabschluss (mit drei Monatsmieten im Rückstand).
Leonhard Schäfer, Florenz
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