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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Kino: Gewaltige Landnahme vom 23.08.2018:

Schere im Kopf

Da mir die »Kritik«-Seiten zum Film zu unübersichtlich geworden sind, schicke ich nun doch unsere Meinung auf diesem Wege der geneigten Öffentlichkeit, in der Hoffnung, dass wir in der Rubrik »Leserbriefe« in unserem Abo etwas wiederfinden werden, es muss ja nicht alles sein. Hier also unsere Meinung, gern zum Weiterverteilen zugelassen:
Kurz gefasst: Gut gemacht, hervorragend besetzt, Thema verpasst – schade.
Das ist ein berührender Film. Ein Film, wie es heutzutage selten welche gibt zur Hochzeit der Allerweltskrimis und Thriller und in der Hochzeit der banalen Quiz- und Rateshows.
Dafür ein Dank den Herstellern.
Doch leider haben sich die Hersteller wie bisher alle anderen Filmteams dem ideologischen Mainstream der herrschenden »öffentlichen Meinung« untergeordnet, dem wahrscheinlich auch Geld gebenden Mainstream, der da nur eine und nur diese eine Klischeeklamotte finanziert, welche da heißt: »DDR gleich Stasi«. Schade, wir hätten von einem Film über Gundermann mehr, sehr viel mehr erwartet als diese alte, abgedroschene und deplazierte Kamelle.
Der Film hat alle guten Möglichkeiten gehabt, das Leben in der DDR wirklichkeitsnah und authentisch wiederzugeben, doch leider nicht umgesetzt.
Das Folgende wäre jetzt eine ungerechte Kritik an »nur« diesem gut gemachten Film, doch unter diesem filmischen Stasi-Dogma (welches so in der DDR-Wirklichkeit nie den Alltag der Menschen bestimmt hat) verschwinden alle anderen Konfliktebenen, die uns DDR-Menschen garantiert viel mehr beschäftigt haben: dass es in den Geschäften dies und jenes nicht zu kaufen gab, dass es nach Tschernobyl keinen Zement mehr gab oder die vielen anderen Engpässe in der Versorgung – das hatte doch nichts mit dem MfS zu tun, das haben wir der Partei- und Staatsführung monatlich berichtet, ohne dass diese darauf reagiert hat. – Das ist ein völlig anderes Thema: Wie reagiert Herrschaft auf Volkes Stimme? Da gibt es von damals viel, aber auch noch viel, viel mehr von heute zu berichten. Und da müsste man Vergleiche ziehen, wenn man den Mut dazu hat. Leider unterscheidet sich die Arroganz der Herrschaft von heute kaum von der damaligen, die doch eigentlich die bessere hätte sein sollen. Das ist ein betrachtenswertes Thema, ganz ohne Stasi, doch leider nicht so ein medienwirksames publizistisches Thema – dafür wird es wahrscheinlich keinen Geldgeber geben, denn so soll DDR gar nicht in den Köpfen der Menschen in Erinnerung bleiben.
Nächste Frage: Wo bleiben die ganzen vielen Akteure, die in der DDR gewuselt haben: die Gewerkschaft, die FDJ, die GST, die »sogenannten« Blockparteien CDU, LDPD, NDPS, BPD, der Kulturbund, der Demokratische Frauenbund, die Domowina, die Kirchen … Auch hier bleibt am Ende alles nur Stasi – und das war unsere Geschichte eben gerade nicht! Nein, das war sie nicht! Doch diese Beispiele nur am Rande – es wäre Stoff für ganze Fernsehfolgen, doch die will die herrschende bürgerliche Meinung, der Geld gebende Mainstream gar nicht. Es soll in der geschriebenen Geschichte über die DDR nur die Stasi übrigbleiben, alles anders soll auf der Müllhalde des bürgerlich Aussortierten landen – pestverdächtig, weil demokratieverdächtig.
Zurück zu Gundermann: Die Zeit nach der Wende war in Gundermanns Heimat eine sehr bewegte. Es gab in Hoyerswerda Brandsätze gegen Asylbewerberheime, rechten Hass, Pogrome. Ich weiß, dass Gundi sich dazu verhalten hat. Kein Wort davon im Film. Doch das gehört zu unserer und zu seiner Geschichte. Warum wird dieser Teil in einem Film, der die Persönlichkeit eines solchen Künstlers in den Mittelpunkt stellen will, ausgeblendet?
Nach der Wende haben Journalisten »entschuldigend« gesagt, sie hätten in der DDR eben eine »Schere im Kopf« haben müssen, um in ihrem Job zu überleben, auch »ohne« Zensur.
Jungs und Mädels in der heutigen Medienzunft: Seht Ihr die Scheren in Euren Köpfen eigentlich noch? Es sind gefühlt doppelt so viele wie vor 1989 – und sie sind doppelt so schlimm.
Dr. Edeltraud und Rolf Radochla, Werben-Ruben (Spreewald)
Veröffentlicht in der jungen Welt am 03.09.2018.
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