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20.06.2023 19:30 Uhr

Putins fünfte Kolonne

»Zeitenwende« auch beim »Verfassungsschutz«: Geheimdienstbericht für das Jahr 2022 wittert prorussischen Landesverrat
Von Sebastian Carlens
Der Russe weiß sich zu tarnen, meinen deutsche Verfassungsschützer

Das »Bundesamt für Verfassungsschutz« (BfV) hat am Dienstag seinen Bericht für das Jahr 2022 vorgestellt. Werden traditionell Bereiche wie »Links-« und »Rechtsextremismus« unterschieden, ist seit dem Februar vergangenen Jahres alles anders. Denn der »russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Sicherheitslage beeinflusst«, so Innenministerin Nancy Faeser. »Extremisten« jedweder Couleur nutzten den Krieg, um sich wahlweise auf die Seite Russlands zu schlagen, die Glaubwürdigkeit der BRD zu unterminieren oder »Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft« zu suchen. 2022 werde man als »das Jahr bezeichnen, in dem der Krieg nach Europa zurückgekommen« sei, ahnt die Ministerin.

Auch wenn überall Landesverrat lauert, kamen Faeser und der BfV-Präsident Thomas Haldenwang nicht umhin, die üblichen »Phänomenbereiche« zu erwähnen. So sei die Zahl der »Rechtsextremisten« im Vergleich zum Vorjahr um rund 14,5 Prozent auf 38.800 Personen gestiegen. Zum »Beobachtungsfall« AfD (»sehr stark von Moskau beeinflusst«) heißt es, dass »angesichts der weiterhin bestehenden inhaltlichen Heterogenität« nicht alle Mitglieder als Extremisten betrachtet werden könnten. Viele Personen aus dem »Reichsbürger«-Milieu hätten zudem »entwaffnet« werden können, meldete Faeser. Der Rechtsextremismus bleibe zwar »die größte Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, nicht jedoch für die innere Sicherheit«, betonte die Ministerin. Wie diese Spitzfindigkeit angesichts regelmäßiger Massaker von Neonazis zu begründen ist, verriet sie nicht.

Das »linksextremistische Potential« soll um 5,2 Prozent auf 36.500 Menschen angestiegen sein; mehr als jeder vierte »Linksextremist« sei zudem gewaltorientiert. Die Szene versuche, Klimaproteste zu unterwandern; außerdem mache sie »nicht alleine Russland für den Angriff auf die Ukraine verantwortlich, sondern auch die NATO und ›den Imperialismus‹«, warnte Haldenwang.

Die junge Welt, die aktuell gegen die Stigmatisierung im Verfassungsschutzbericht prozessiert, wird weiterhin als »bedeutendstes und auflagenstärkstes Medium im Linksextremismus« gebrandmarkt. Sie tritt nun nicht mehr nur für »die Errichtung einer sozialistischen/kommunistischen Gesellschaftsordnung ein«, sondern »strebt diese an« – ein kühnes Programm für eine Tageszeitung. Die jW sei »mehr als ein Informationsmedium. Sie wirkt als politischer Faktor und schafft Reichweite durch Aktivitäten wie zum Beispiel die Durchführung der alljährlichen Rosa-Luxemburg-Konferenz«, so der aktuelle Bericht. Noch ein neuer (und unbelegter) Zungenschlag findet sich im Papier: »Wenige dogmatische Linksextremisten, wie zum Beispiel einige Autoren der linksextremistischen Tageszeitung ›junge Welt‹, stellen sich auf die Seite Russlands und verteidigen dessen vermeintliche ›Sicherheitsinteressen‹ gegenüber der NATO.«

Gegenüber der »Jungen Alternative«, die juristisch gegen die Einstufung als »gesichert rechtsextrem« vorgeht, sieht sich Haldenwang »aus Achtung vor dem Gericht« zum »Stillhalten« verpflichtet, bis ein Urteil vorliegt – die »JA« bleibt somit Verdachtsfall. Solche Schonung gilt nur gegenüber rechts: Die anhängige Klage der jW führt selbstverständlich nicht zum »Stillhalten« seitens der Dienste. Neben den »gesichert linksextremistischen Bestrebungen« ist die junge Welt offenbar nur noch einen Schritt vom Landesverrat entfernt. Da »extremistisches Denken« – so Haldenwang – zu »extremistischem Reden« und schließlich zu »extremistischem Handeln« führe, muss wohl schon beim Gedankenverbrechen eingegriffen werden, wenn die Heimatfront ruhig bleiben soll.