Buckeln für Agrarbetriebe
Von Max Ongsiek
Auf den Sieg über Nazideutschland folgte in der sowjetischen Besatzungszone der Aufbau eines Agrarsystems auf den Trümmern reaktionärer ostelbischer Gutsherrschaft. Nach Enteignung und Vertreibung der Großgrundbesitzer folgte 1945 und 1946 die Bodenreform. Sie ermöglichte eine gerechte Landverteilung zugunsten von Kleinbauern, Landarbeitern und Pächtern. In den Westgebieten – der späteren BRD – gaben die Großagrarier in der Landwirtschaft weiter den Ton an. Der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik 1990 zerstörte nicht nur die Errungenschaften der bäuerlichen Kollektivierung im Osten, sondern zementierte eine gesamtdeutsche Ordnung, die auf Ungleichverteilung von agrarischem Grund und Boden aufgebaut war.
Neben riesigen Flächen haben die heutigen Agrarier Zugriff auf eine umfangreiche menschliche Verfügungsmasse. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamts von April 2025 waren im Zeitraum von März 2022 bis Februar 2023 bundesweit 875.900 Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt. 242.800 von ihnen, also 28 Prozent, als Saisonarbeitskräfte. Die Lebens- und Arbeitsrealität dieser oft »Erntehelfer« genannten Arbeiterinnen und Arbeiter steht in den seit 2018 jährlich veröffentlichten Berichten über »Saisonarbeit in der Landwirtschaft« der »Initiative Faire Landarbeit« im Fokus: Es sind Osteuropäer – hauptsächlich Rumänen und Polen –, die sich in den Monaten März bis Oktober bei Ernten von Spargel oder Gurken auf den Feldern deutscher Kapitalisten abrackern.
Die Initiative hat im Jahr 2024 nach eigenen Angaben bundesweit mit 40 Aktionen rund 3.100 Saisonarbeiter erreicht: mittels Feldbesuchen und Informationsveranstaltungen über Arbeits- und Gesundheitsschutz. Der im März 2025 veröffentlichte Bericht für 2024 setzt sich in der Hauptsache mit der prekären Unterbringung der Betroffenen auseinander. Beschrieben wird, wie ein Großteil hiesiger Agrarbetriebe den sowieso schon niedrigen Mindestlohn von 12,82 Euro pro Stunde über Wuchermieten umgeht. Bei einer 40-Stunden-Woche können demnach die Abzüge durch hohe Wohnkosten bis zu 50 Prozent des Nettolohns betragen.
Passend dazu fordert der größte Agrarlobbyist der BRD – der Deutsche Bauernverband (DBV) – in der Diskussion um eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns eine Ausnahme für Saisonkräfte. »Kein Saisonarbeiter ist gezwungen, das Wohnangebot der Betriebe anzunehmen«, erklärte Bernhard Krüsken, DBV-Generalsekretär, am 5. Juni auf jW-Anfrage. Dabei sieht das von Deutschland ratifizierte Übereinkommen Nr. 184 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vor, dass Saisonarbeitern durch die Unternehmen eine angemessene Unterkunft zur Verfügung gestellt werden muss.
Möglich gemacht werden diese besonders ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnisse durch die EU-»Arbeitnehmerfreizügigkeit«. Neben der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gehören laut der »Initiative Faire Landarbeit« die kurzfristige, die kontingentierte und die Ferienbeschäftigung zu den gängigen Konstruktionen. Der Großteil der Saisonkräfte ist kurzfristig beschäftigt. Die Tätigkeit darf 70 Arbeitstage bzw. drei Monate im Jahr nicht überschreiten, ist sozialversicherungsfrei, darf nicht berufsmäßig ausgeübt werden und soll von »untergeordneter wirtschaftlicher Bedeutung« sein.
Auch bei der Ferienbeschäftigung spart der Betrieb die Sozialversicherungsbeiträge. Jene Form unterscheidet sich von der Saisonbeschäftigung dadurch, dass die Jobs Studierenden vorbehalten sind. Möglich ist ein Arbeitspensum bis 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten. Die kontingentierte Beschäftigung auf Grundlage der Abkommen mit den Nicht-EU-Staaten Republik Moldau und Georgien ermöglicht 5.000 Georgiern und 1.500 Moldauern sozialversicherungspflichtig den Einsatz auf deutschen Feldern. Diese Saisonbeschäftigung darf nicht länger andauern als 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen, beziehungsweise darf sie maximal sechs Monate innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten betragen, erklärt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
Der »Faire Landarbeit«-Report verdeutlicht, dass Arbeitszeit und Bezahlung zu den Hauptproblemen der Saisonarbeit gehören. Manchmal müssen die Beschäftigten mehr als zwölf Stunden am Tag schuften; an anderen Tagen fällt die Arbeit aus. In diesen Fällen wird nicht entlohnt. Oft sind die Arbeitszeiten in den Verträgen zu niedrig eingetragen, wodurch die Betriebe bei Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall geringere Beträge zahlen.
Schutzlos sind offenbar vor allem Frauen. So haben die Berater der Initiative in den vergangenen Jahren nach eigenen Angaben mehrere Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Saisonarbeiterinnen recherchiert. Demnach gingen die Übergriffe dabei immer von den Vorarbeitern aus. Danach eine angemessene medizinische Behandlung zu erhalten wird ihnen systematisch erschwert: Ausländische Saisonkräfte haben keinen Zugang zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Laut Recherche der Initiative waren im Juni 2023 rund 82 Prozent der 50.000 ausländischen Saisonarbeitskräfte in der deutschen Landwirtschaft über das Agrarunternehmen, welches sie angeheuert hat, privat krankenversichert. Das Leistungsspektrum dieser Gruppenkrankenversicherung entspricht dem einer einfachen Reiseversicherung – schließlich, so die Logik der Ausbeuter, sollen die oft osteuropäischen Arbeitsmigranten am Ende der Saison wieder dorthin, wo sie hergekommen waren.
Die »Initiative Faire Landarbeit« ist ein Bündnis der gewerkschaftsnahen Beratungsstellen »Faire Mobilität«, des Europäischen Vereins für Wanderarbeiterfragen (EVW) und des Beratungsnetzwerks »Gute Arbeit«, der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU), kirchlichen Beratungsstellen sowie des PECO-Instituts. Adressiert an politische Entscheidungsträger, formuliert die staatstragende Initiative Forderungen, die die Arbeitssituationen der Saisonkräfte verbessern sollen, ohne aber die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse in Frage zu stellen.
So wird von Regierung und politischen Entscheidungsträgern die Sicherstellung von Mindestlohn und täglicher Höchstarbeitszeit für Saisonbeschäftigte gefordert. Außerdem die Übernahme der kompletten Unterkunftskosten durch die Unternehmen sowie die Einhaltung und Kontrolle von Mindeststandards von Unterkünften. Das Bündnis setzt sich dafür ein, dass Verstöße gegen die soziale Konditionalität der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) auch der IG BAU offiziell gemeldet werden können. Die Zahlung von EU-Subventionen an Landwirte sei an die Einhaltung bestimmter arbeitsrechtlicher Standards und Vorschriften zum Arbeits- und Gesundheitsschutz zu knüpfen. Außerdem verlangt die Initiative, dass die Vermittlung von Saisonbeschäftigten nach Deutschland reguliert werden muss. »Faire Landarbeit« streitet für den vollen Krankenversicherungsschutz für Wanderarbeiter und den Erhalt von ausreichenden Präventionsmaßnahmen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Hieran anknüpfend erklärte eine Sprecherin des Bundesministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat (BMEL) gegenüber junge Welt am 6. Juni, der wichtige Beitrag der Saisonbeschäftigten, die Lebensmittelversorgung, verdiene »Respekt und faire Bedingungen«. Der Mindestlohn schütze die Beschäftigten »vor unangemessen niedrigen Löhnen«, auch gelte das Arbeitszeitgesetz für Saisonkräfte. Ansonsten fördere das BMEL die Beratung und Betreuung von Saisonarbeitskräften im Arbeitsschutz, in der Arbeitssicherheit und im Gesundheitsschutz. Für Saisonarbeitskräfte aus Drittstaaten gelte Paragraph 15 a der Beschäftigtenverordnung, erklärte ein BMAS-Sprecher am selben Tag auf jW-Anfrage. Dazu gehöre auch, dass »die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Unterkunft angemessen sein muss und die Miete nicht automatisch vom Lohn einbehalten werden darf«. Zudem müsse der »Arbeitgeber« den Nachweis eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes erbringen.
Der deutsche Staat ist als Interessenvertreter der Agrarindustrie entsprechend nicht daran interessiert, den Status quo der Saisonarbeiter zu verändern.
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