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Aus: Feminismus, Beilage der jW vom 06.03.2024
Feminismus

Propaganda mit Gewalt

Israels Regierung instrumentalisiert sexualisierte Übergriffe am 7. Oktober für Kriegführung
Von Ina Sembdner
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»Ich habe seit der Grundschule mit Homofeindlichkeit zu kämpfen«, erklärt Mandisi Dolle Phika aus Paarl

Es sind schwerwiegende Vorwürfe, die rund um das Thema sexualisierte Gewalt durch »die Hamas« und den 7. Oktober kursieren. Es heißt, dass sie verbreitet, »systematisch« und als Kriegswaffe eingesetzt worden sei. Die massenhafte Tötung von Zivilisten und Soldaten unter Führung der Hamas – die »monströse Gewalt« – wird nicht nur zur Rechtfertigung des genozidalen Kriegs gegen den Gazastreifen benutzt, auch geschlechtsspezifische Gewalt wird rassistisch instrumentalisiert.

Denn die wird den anderen, den »barbarischen Terroristen« zugeschrieben und die eigentliche Gefahr für Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft wird so relativiert: Gewalt in Nahbeziehungen ist weltweit die bei weitem häufigste Form der Gewalt gegen Frauen – rund 641 Millionen Menschen sind davon betroffen. Auch hierzulande ist die Rede von angeblich importierter sexualisierter Gewalt an »unseren deutschen Frauen« wiederkehrend, wenn es zu Sexualstraftaten durch Männer mit Migrationsgeschichte kommt.

Dass es bei der Angriffswelle ab dem 7. Oktober sexualisierte Gewalt gegeben hat, steht nicht in Frage – allerdings lassen die bislang dokumentierten Zeugenaussagen und die fehlenden möglichen forensischen Beweise nicht darauf schließen, dass es sich dabei um eine »systematische« Strategie oder den Einsatz als »Kriegswaffe« handelt. Kriegerische Auseinandersetzungen sind nahezu immer mit sexualisierter Gewalt verbunden – auch an Männern. Und sie wird instrumentalisiert. Als Gegenbeispiel ist im Krieg in Sudan das Ausmaß von Vergewaltigungen durch Paramilitärs in Westdarfur im vergangenen Jahr etwa in einem Investigativbericht der Agentur Reuters gut dokumentiert. Die Recherche deutet – vorsichtig – an, dass es sich um ein systematisches Vorgehen handeln könnte: Es ist jedoch ein nicht-»weißes« Problem, der mediale Aufschrei wie im Falle Israels blieb aus.

Nach Einschätzung etwa der Geschichtsprofessorin Sara Rahnama wurden die Vorwürfe Ende November/Anfang Dezember dominant in den Vordergrund gerückt, als »der israelische Staat und seine Unterstützer in den USA Mühe hatten, angesichts der historisch größten weltweiten Mobilisierung für die Rechte der Palästinenser die Berichterstattung zu kontrollieren«. In dem am 19. Januar bei Middle East Eye veröffentlichten Text: »›Massenvergewaltigung‹ durch die Hamas: Wie Israel die Angst vor muslimischen Männern als Waffe einsetzt, um die Gewalt in Gaza anzuheizen«, heißt es weiter, dass israelische Politiker gleichzeitig begannen, »sich ausdrücklich auf Vergewaltigungen zu berufen, als sie zu mehr internationaler Unterstützung für Israel aufriefen«. Entsprechend kritisierte etwa Bild am 3. Dezember mangelnde Aufmerksamkeit internationaler Organisationen im Titel »Israelische Frauen brutal vergewaltigt. Das UN-erträgliche Schweigen«. Die US-Agentur AP schrieb am 6. Dezember: »Neue Anzeichen für ›weitverbreitete‹ Sexualverbrechen der Hamas, während Netanjahu der Welt Gleichgültigkeit vorwirft«. Am 28. Dezember – einen Tag, bevor Südafrika seine Klage gegen den Staat Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) des Völkermords einreichte – veröffentlichte die New York Times die Hintergrundreportage »›Schreie ohne Worte‹. Wie die Hamas am 7. Oktober sexualisierte Gewalt als Waffe eingesetzt hat.« Das Investigativportal The Intercept schrieb in einer Analyse des Artikels Ende Februar – dass er »die Art und Weise, wie die Welt den andauernden Krieg Israels im Gazastreifen versteht, verändern könnte«.

Eine Reporterin des Artikels »Schreie ohne Worte«, Anat Schwartz, hatte einen Beitrag auf der Plattform X geliked, in dem befürwortet wurde, dass Israel Gaza in ein Schlachthaus verwandelt. Die Autoren des Intercept-Textes zeichnen den langwierigen und nicht »erfolgreichen« Weg der insgesamt drei NYT-Reporter zu dem gewünschten Stoff nach. Sie kommen zu dem Schluss, dass der Auftrag darin bestanden habe, »ein vorgegebenes Narrativ zu untermauern«. Mit »gravierenden Auswirkungen, die die Berichterstattung für Tausende von Palästinensern hatte, deren Tod durch die angebliche systematische sexualisierte Gewalt der Hamas, die die Zeitung angeblich aufgedeckt hatte, gerechtfertigt wurde«. Besser machte die NYT es, als sie das Skript einer entsprechenden Folge für ihren Podcast »The Daily« umschreiben ließ: Es enthielt nun »wichtige Vorbehalte, ließ Unsicherheiten zu und stellte offene Fragen, die im ursprünglichen Artikel fehlten, der seine Ergebnisse als endgültigen Beweis für den systematischen Einsatz von sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe darstellte«, berichtete The Intercept am 28. Januar.

Währenddessen blieb die israelische Führung bei ihrer Position: Am 2. Januar diffamierte Israels Sprecher Eylon Levy Südafrika vor dem IGH, das »als Pro-bono-Anwalt einer völkermordenden Vergewaltigungsmaschine der Hamas« fungiere. Zudem trage »die Vergewaltigungsmaschinerie der Hamas die volle moralische Verantwortung für alle Opfer in diesem Krieg.« Am 5. Januar klagte Netanjahu, bevor er die Ausweitung der Bodenoffensive im Gazastreifen gen Süden ankündigte, dass »ihr von den Vergewaltigungen israelischer Frauen gehört habt, von den schrecklichen Greueltaten, den sexuellen Verstümmelungen (sic!), wo zum Teufel seid ihr, ich erwarte von allen zivilisierten Führern, Regierungen, Nationen, dass sie sich gegen diese Greueltaten aussprechen«. Für Professorin Rahnama ist in solchen Äußerungen »implizit enthalten, dass Israel, eine freie, zivilisierte, feministische Gesellschaft« sei, »die von anderen ›zivilisierten Führern‹ respektiert wird«. Demgegenüber steht der Angriff »einer Gruppe von Muslimen, deren Barbarei und gewalttätige Frauenfeindlichkeit sich in ihrem vorsätzlichen Einsatz von Massenvergewaltigungen als Kriegswaffe widerspiegelt«.

Das fortlaufende Rechercheprojekt »Oct7factcheck.com«, das Zeugenaussagen und andere Berichte zu mutmaßlichen sexualisierten Gewalttaten gesammelt und überprüft hat, kommt zu dem Schluss: »Es ist sehr wahrscheinlich, dass es am 7. Oktober zu Vergewaltigungen kam. Doch selbst wenn alle Zeugenaussagen zutreffen sollten, lassen die relativ geringe Zahl der Klagen und die begrenzten Beweise im Vergleich zum Ausmaß des Angriffs am 7. Oktober darauf schließen, dass die Behauptungen über Massenvergewaltigungen als systematische Kriegswaffe unbegründet sind.« Und solange Israel unabhängige internationale Untersuchungen nicht zulässt, werden Vorwürfe weiterhin instrumentell erhoben und gleichermaßen von anderer Seite in Frage gestellt. Das liegt weder im Interesse der tatsächlich Betroffenen, noch hilft es im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt.

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