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Aus: Kinder, Beilage der jW vom 31.05.2023
Kinderleben

»Ich hätte gerne ein eigenes Zimmer«

Wohnen, streiten, sich liebhaben. Ein Gespräch mit den Drillingen Bashkim, Adelina und Granit
Von Lena Reich
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Vielen Dank, dass ihr das Interview mit mir macht. Mich interessiert sehr, wie so ein Tag im Leben von Drillingen ausschaut und wie sich das für euch anfühlt, immer zu dritt unterwegs zu sein. Und ich kenne wirklich nur euch als Drillinge.

Bashkim: Und wir kennen nur dich als Journalistin.

Adelina: Ich finde es toll, dass ich Geschwister habe, die in meinem Alter sind.

Granit: Ja, aber wenn zum Beispiel Gäste da sind, dann ist das Leben als Drilling komisch. Immer führt sich dann jemand lustig auf, so albern, damit die Gäste lachen.

Adelina: Also, ich bin das fast immer oder unsere kleine Schwester. Wir haben nämlich noch eine kleine Schwester.

Granit: Oder ich.

Beginnen wir mal ganz vorne. Ihr geht in die zweite Klasse. Wann klingelt denn euer Wecker?

Adelina: Wir haben keinen Wecker. Unsere Mutter ist der Wecker.

Bashkim: Sagt sie …

Adelina: Unsere Mutter steht so um sechs auf, putzt ihre Zähne, und dann kommt sie zu uns rüber ins Zimmer und weckt uns. Sie fängt bei uns Mädchen an, dann die Jungs. Manchmal aber auch andersrum.

Granit: Sie klatscht in die Hände und ruft »Schlafenszeit ist um«.

Adelina: Aber es ist manchmal so, dass …

Granit: … einer noch schlafen möchte.

Adelina: Das habe ich nicht gemeint.

Granit: Sondern?

Adelina: Egal.

Echt? (Sie nickt.) Schlaft ihr alle in einem Zimmer?

Granit: Ja. Ich habe mit meinem Bruder ein Bett zusammen. Das kann man so unten ausziehen, legt eine Matratze drauf. Dann kann man da drin zu zweit schlafen. Daneben ist ein Schrank, und dahinter sind dann die Mädchen. Die haben auch so ein Bett zusammen.

Adelina: Wir dürfen kein Stockbett haben. Mein Vater sagt: Das ist zu gefährlich.

Wie ist das denn, wenn du mit deiner kleinen Schwester in einem Bett schlafen musst?

Adelina: Nicht so toll. Sie geht mir manchmal sehr auf die Nerven, weil sie am Abend Spielsachen ins Bett räumt, und ich habe dann sehr wenig Platz, bekomme Rückenschmerzen, und manchmal verletzte ich mich dann an den Spielsachen. Hier! (Sie zeigt einen kleinen Kratzer am Arm.) Oder sie will, dass ich ihr eine Geschichte erzähle. Dann erfinde ich irgendwelche Geschichten. Sie fragt immer: »Ist das auch wirklich echt?« Und ich sage: »Ja!« Dann schläft sie ein, und ich liege noch sehr lange wach.

Granit: Ich habe manchmal Angst nachts. Und dann bin ich froh, dass mein Bruder da ist. Ich habe nämlich mal eine Serie gesehen, die ich eigentlich nicht sehen durfte, in der ging es um Zombies. Das war richtig gruselig. Ich hatte Alpträume. Dann habe ich gesagt: Bashkim, kann ich bitte zu dir kommen? Er hat »ja« gesagt. Dann haben wir gekuschelt und sind eingeschlafen.

Bashkim: Ich hätte gerne ein eigenes Zimmer, aber so ganz alleine kann ich nicht schlafen.

Granit: Oft kann ich nicht einschlafen. Ich probiere es immer wieder. Einfach Augen zu und entspannen. Aber dann gehen die wieder auf.

Adelina: Morgens fühlt es sich oft an, als hätten wir gar nicht geschlafen. Auch, wenn unsere Mutter sagt, dass wir geschlafen haben. Es fühlt sich aber so an! Was ich vorhin sagen wollte: Mein anderer Bruder, also Bashkim (er verlässt den Raum), legt sich nach dem Aufwachen einfach in das Bett meiner Eltern. Voll unfair. Wir gehen alle ins Badezimmer, und er versteckt sich.

Würde es nicht Gedrängel geben, wenn ihr alle zur selben Zeit im Badezimmer wärt?

Granit: Ja, aber nur beim Händewaschen. Dann schubse ich die anderen weg.

Adelina: Nein, das ist nicht so.

Granit: Doch.

Adelina: Nein, Granit. Wir gehen alle zusammen ins Badezimmer. Nur wenn es privat ist, also einer muss auf die Toilette, dann geht man allein.

Granit: Wir nicht.

Adelina: Stimmt. Ihr Jungs dürft oft nicht zusammen, weil ihr sonst zuviel Blödsinn macht.

Machen sie denn mehr Blödsinn als du und deine Schwester?

Adelina: Wir spielen mehr. Aber seitdem wir den Fernseher haben, spielen wir weniger.

Granit: Meine Schwestern schlagen sich auch oft.

Adelina: Und wenn wir schlafen gehen, dann kloppt ihr euch! (Bashkim kommt zurück.) Also eigentlich gibt es immer wieder Gründe, sich zu streiten. Weil die anderen was gemacht haben, was ungerecht ist, weil die Beine weh tun, weil jemand dort sitzt, wo der andere gerne sitzen würde.

Wo frühstückt ihr?

Adelina: Hier, am Küchentisch. Wir sitzen dann alle hier, außer meinem Vater. Der muss schon arbeiten. Meine Mutter schmiert uns die Pausenbrote. Sie packt ganz viel leckere Sachen in die Brotbox: Joghurt, Äpfel, Kekse und Süßes.

Granit: Manchmal nehmen wir auch Kuchen mit, wenn wir einen gebacken haben.

Backt ihr hier in der Küche?

Granit: Zwei stehen dort an der Spüle und zwei dort am Herd. Wir machen Pfannkuchen und Apfelkuchen. Unsere Mutter zeigt uns, wie das geht.

Bashkim: Ich bin hier der Koch. Gestern habe ich für alle Spaghetti Bolognese mit Gemüse gekocht. In der Schule gibt es auch leckeres Essen wie Schnitzel, aber hier ist es schon besser.

Granit: Das stimmt. Am liebsten esse ich mit meiner Mama.

Geht ihr eigentlich allein zur Schule?

Adelina: Ja, schon. Unsere Schule ist gleich um die Ecke. Aber im Winter bringt uns unsere Mutter mit dem Auto, weil vor der Schule häufig Leute waren, vor denen wir Angst hatten. Sie bringt dann unsere kleine Schwester noch weiter in den Kindergarten. Der ist ziemlich weit weg.

Was waren das für Leute?

Adelina: Das sind Menschen, die keine Wohnung haben und in dem Haus schlafen, das gegenüber von unserer Schule steht. Die müssen da morgens raus und schreien manchmal rum oder stehen einfach da.

Ihr besucht unterschiedliche Klassen. Wie findet ihr das?

Bashkim: Mir fehlt vor allem mein Bruder. Der ist richtig schlau, und ich könnte seine Matheaufgaben einfach nehmen.

Granit: Ich glaube, wenn mein Bruder bei mir wäre, würde ich viel mehr Ärger bekommen. Wir streiten uns viel.

Adelina (flüstert): Ich hasse Mathe.

Granit: Ich liebe Mathe. Ich habe mich schon dran gewöhnt, dass ich allein in der Klasse bin. Aber manchmal bräuchte ich die anderen schon. Ich habe schon sehr strenge Lehrer.

Adelina: Also, ich fühle mich nicht allein. Ich kann mich schon selbst beschützen. Wenn ich von Kindern angegriffen werde, kann ich mich verteidigen. Dafür brauche ich meine Brüder nicht. Aber ich vermisse sie schon.

Granit: Am liebsten habe ich Fußball und Treffball. Da spielen zwei Mannschaften gegeneinander, in der Mitte ist eine Bank. Als meine Klasse ein Turnier gegen Adelinas Klasse hatte, haben die gewonnen und dann einen Pokal und eine Urkunde bekommen. Wir haben nur eine Urkunde gekriegt. Das fand ich so ungerecht.

Adelina: Ich liebe die Tanzpausen in unserer Schule. Da steht eine Musikbox am Sekretariat, und wir tanzen alle und haben viel Platz.

Granit: Eine Lehrerin hat mich gefragt: »Warum kannst du so gut tanzen?« Ich habe gesagt: »Du musst einfach nicht nachdenken.«

Was ist denn dein Lieblingsfach in der Schule?

Adelina: Kunst ist meine Leidenschaft. Ich liebe es vor allem, Menschen zu zeichnen. Ich möchte gerne Künstlerin werden. Das wird bestimmt funktionieren.

Granit: Meins ist Mathe und Sport. Ich möchte Autohändler werden. Wenn das nicht geht: Fußballer. Und wenn das nicht geht: Anime-Zeichner, so wie bei »One Piece«.

Wenn ihr nach der Schule nach Hause kommt, was macht ihr dann?

Adelina: Wir packen sofort unsere Sachen aus, setzen uns an den Küchentisch, und dann machen wir Hausaufgaben. Im Hort machen wir die nicht. Mama sagt: Erst sollen wir Hausaufgaben machen, dann können wir Spaß haben.

Granit: Ich habe nie welche auf.

Bashkim: Aber ich. Die sind doof. Da kriege ich schlechte Laune.

Was macht ihr denn eigentlich, wenn ihr schlecht gelaunt seid?

Bashkim: Nichts. Obwohl, ich springe auf dem Sofa rum. (Er verlässt wieder den Raum.)

Granit: Wenn ich sauer bin, dann schreie ich und lasse meine ganze Wut raus. Und ich weine.

Wo?

Granit: Direkt hier.

Adelina: Also, ich gehe in unser Bett, und dann hole ich das kleine Piano raus, damit mir nicht so langweilig wird.

Habt ihr auch so eine Regelung, dass ihr zum Beispiel eine gewisse Zeit allein in dem Zimmer sein könnt?

Adelina: Nein. Wir müssen das sagen. Aber meine Schwester ist eine blöde Nervensäge. Und Papa verzeiht ihr alles. Weil sie so klein ist.

Granit: Die Kleine fängt immer an zu streiten. Sie kriegt, was sie will. Und wenn man was macht oder ich etwas wegnehme, dann fängt sie sofort an zu heulen.

Adelina: Es ist voll unfair.

Granit: Total.

Könnt ihr euch erinnern, was das Unfairste war, was euch bisher passiert ist?

Granit: (Zu seiner Schwester:) Weißt du noch?

Adelina: Wir waren auf Carls Erdbeerhof, und Granit durfte ganz allein zum Eisparadies gehen. Und wir anderen waren noch auf dem Trampolin und wurden einfach nicht gefragt.

Granit: Sie waren so sauer, weil Mama mir vertraut hat und den anderen nicht. Aber das nächste Mal gehen wir gemeinsam zusammen, ja?

Adelina: Und ein anderes Mal hat unser Vater unserer kleinen Schwester einfach Schuhe gekauft – und uns nicht. Und dann hat er gesagt, dass er am nächsten Tag mit uns Schuhe kaufen geht, aber das hat er nicht gemacht. Und am übernächsten Tag auch nicht. Und Mama auch nicht.

Granit: Und zum Bayram-Fest ist unser Schuhpaket gar nicht angekommen.

(Bashkim kommt hinzu und klettert auf den Schoß der Mutter.)

Bashkim: Einmal sind Polizisten in die Wohnung gestürmt und haben meine Schuhe zerschnitten. Sie hatten Maschinenpistolen und haben nach grünen Diamanten gesucht.

Und wo warst du da?

Bashkim: Ich habe mit meinem Vater auf dem Sofa geschlafen. Ich kann manchmal nicht gut atmen, weil mein Herz krank ist. Alle Drillinge haben das. Aber mein Herzfehler ist am schlimmsten. Meine Mutter schläft dann in dem anderen Zimmer. Nachts wache ich oft auf und muss an die Polizisten denken. Sie haben meinen Vater auf den Boden gedrückt und geschrien. Und einmal hat meine Mutter mein Eis gehalten und einfach aufgegessen. Dabei war das meins. Das fand ich auch unfair, aber sie hat sich wenigstens entschuldigt.

Teilt ihr euch auch eure Kleidung oder eure Spielsachen?

Granit: Schon. Aber wir haben alle auch eine kleine Schublade, in der ist das, was nur uns gehört, wie diese Uhr. Ich habe auch eine Drohne, ohne Kamera. Mit der darf ich aber nur auf dem Hof fliegen, weil die Wohnung zu klein ist. Jetzt ist sie kaputt, und wir müssen die Rotorblätter kleben.

Adelina: Ich habe gestern meine Inliner auf dem Hof vergessen. Jetzt ist nur noch einer da. Ich bin so traurig, ich könnte weinen.

Granit: Und sie kann so gut fahren!

Bashkim: Ich mag einfach so gerne Fußball spielen oder Volleyball oder Treffball. Ich liebe es, zu rennen und mich zu bewegen. Eigentlich brauch ich nur einen Ball. Ich will ja auch Fußballer werden.

Kennt ihr eigentlich andere Drillinge?

Bashkim: Nein. Nur Zwillinge.

Granit: Doch. Beim Patentreffen von der Bürgermeisterin. Einmal im Jahr treffen sich alle Drillinge und Vierlinge und sogar Sechslinge aus Berlin. Der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin ist nämlich unser Patenonkel oder Patentante. Mit Herrn Müller waren wir im Technikmuseum und mit Frau Giffey in Britz. Es gab Zuckerwatte, Spiele, Pferde reiten, Hertha-Mützen, Schals und dort waren so viele Kinder, die gleich aussahen. Das war sehr komisch.

Adelina: Wir haben aber auch Geschenke bekommen. Ferienpässe, Bücher und einen Gutschein für den Zoo. Der Eintritt in den Zoo ist sehr teuer, auch wenn wir einen Berlin-Pass haben. Deswegen waren wir alle sehr glücklich.

Am 1. Juni ist Kindertag. Dann wird daran erinnert, dass Kinder Rechte haben, zur Schule gehen und ihre Eltern sehen dürfen. Was wünscht ihr euch zum Kindertag?

Adelina: Ich wünsche mir nur, dass meine Familie gesund ist und dass die Kinder, die dort leben, wo es so richtig heiß ist, also in Afrika zum Beispiel, dass die bitte genügend Wasser und Essen haben. Wenn ich Geld hätte, würde ich Ihnen allen Brunnen bauen.

Granit: Für mich ist es auch das Wichtigste, dass meine Mama gesund ist, mein Papa und meine Geschwister.

Bashkim: Ich würde mir ein Hoverboard wünschen oder dass ich einmal E-Scooter fahren darf.

Ich danke euch allen für das Gespräch.

Nacheinander gehen Adelina und Granit aus der Küche. Bashkim klettert auf die Küchenzeile und holt sich Kekse aus dem Schrank. Vjollca, fünf Jahre alt, lange blonde Locken und große blaue Augen, kommt in die Küche, setzt sich auf den Stuhl gegenüber.

Wollen wir auch noch einmal miteinander reden?

Vjollca: Jap. Ich finde es unfair, dass Menschen China-Nudeln essen dürfen. Das ist richtig unfair. Ich will, dass meine Mutter mir das auch erlaubt. Aber das macht sie nicht.

Am 1. Juni ist Kindertag, und es wird daran erinnert, dass es noch sehr viele Kinder gibt, die unfair behandelt werden. Was würdest du dir zum Kindertag wünschen?

Vjollca: Dass ich China-Nudeln essen darf. Und ich wünsche mir ein Haus, nicht aus Gold, aber eine größere Wohnung, und für meine Mama ein eigenes Zimmer.

Adelina, Bashkim und Granit – braune Augen, braune Locken – sind Drillinge und leben seit ihrer Geburt in einem Stadtteil, der mit zu den ärmsten in Berlin gehört. Sie besuchen die zweite Klasse der Kiezgrundschule. Zu den Geschwistern gehört noch die fünfjährige Vjollca, die in diesem Jahr eingeschult wird. Die Namen der drei wurden von der Redaktion geändert.

Lena Reich ist freie Journalistin und leitet das Müllmuseum in Berlin. Sie arbeitet zu Anti­ziganismus, Gefangenenkunst und politischen »Säuberungen« in ­Europa.

www.muettergenesungswerk.de/kur-fuer-mich/­mutter-kind-kur/

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