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Aus: Kinder, Beilage der jW vom 27.05.2015

Werdet schlau

Selbstermächtigung statt Selbstoptimierung: Die Kinderbücher von Peter Hacks werden zu wenig diskutiert, zum Beispiel »Jules Ratte«
Von Christof Meueler
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Eine Ratte müsste man sein. Zumindest eine Ratte, die von Peter Hacks erfunden wurde. Dann würde man sehr viel wissen. Und zwar nicht durch mühsame Lektüre, sondern durch ungehemmten Appetit: Bücher werden nicht gelesen, sondern aufgegessen. Davon wird man nicht dick, sondern klug.

Wer das nicht glaubt, der soll »Jules Ratte«, geschrieben von Peter Hacks, illustriert von Klaus Ensikat, lesen oder noch besser seinen Kindern vorlesen. Und natürlich angucken. Die Technik des Bücheressens, die sollten die Nerds der Peter-Hacks-Gemeinde einmal diskutieren, aber die denken wahrscheinlich, dass Kinderbücher nur was für Kinder sind. Auch die des Meisters, dessen »Bär auf dem Försterball« (1972) klar zu seinem Hauptwerk gezählt werden muss. Stimmt’s oder habe ich recht? »›Brumm‹, sagte der Bär, und sein Bass war so tief wie die Schlucht am Weg, in die die Omnibusse fallen«, heißt es darin.

»Jules Ratte« spricht nicht, sie schreibt höchstens mal einen Brief. In diesem Büchlein, erstmals 1982 in der DDR erschienen, nun vom Eulenspiegel Verlag frisch aufgelegt, erzählt Hacks in Reimform von einer Wanderratte, »die Jules Schrank geleeret hatte«. Als die zirka zehnjährige Jule Janke eines Morgens aufsteht, stellt sie fest, dass alle ihre Bücher weg sind, aufgegessen von einer Ratte, und die sitzt nun »von Weisheit fett und hochzufrieden unterm Bett«.

Jule lockt sie in eine Falle. Ihr Köder ist kein Speck, sondern ein Buch. Jule fragt sie: »Von meinen Büchern blieben Fetzen / Du sollst sie, denn du kannsts, ersetzen. / Willst du das tun? Die Ratte will. / Und unsere Jule lächelt still.« Die Ratte hat »alles Wissen der Welt« intus und hilft Jule bei den Hausaufgaben. Doch was heißt helfen? Die Ratte sagt Jule alles vor, sogar in der Schule, da sitzt sie unterm Pult. Jule wird nun »pampig wie eine Königin«, denn Wissen ist Macht.

Doch im Frühjahr will die Wanderratte weiterwandern. Sie geht nach Spanien und wird ein »großes Tier«. Jule fällt dumm auf, denn ohne die Ratte merkt jeder, dass sie keine Ahnung hat. Sie muss erkennen: »Nur eigne Weisheit macht den Weisen« und fängt an zu lernen. Denn der Untertitel dieses 28-Seiten-Werks lautet »... oder Selber lernen macht schlau«.

Vordergründig erinnert diese volkshochschulpädagogische Pointe an den DDR-Klassiker »Wie Putzi einen Pokal gewann« von Elisabeth Shaw (1967), in dem die Maus Putzi erst durch viel Frühsport ihre Schnupfennase besiegen kann, um sich erfolgreich auf das Damespielen, ihrer einzigen Leidenschaft, zu konzentrieren. Doch bei Peter Hacks, dem erklärten Feind der deutschen Romantik, geht es nicht um Formen der Selbstoptimierung, sondern um Selbstermächtigung. »Dies halbe Jahr mocht ich dir schenken, / jetzt musst du wieder selber denken. / Ergebenst, Piep« hatte die Ratte der Jule zum Abschied geschrieben. Ein höfliches, freundliches, geradezu humanistisch gesonnenes Tier. Ganz anders als beispielsweise der eitle Fatz und Ratz in Hans Falladas »Geschichte von der gebesserten Ratte« aus dessen »Murkelei«-Buch von 1947, der die Menschen aus Langeweile gegeneinander aufhetzt.

Jules Ratte sorgt sich lieber um ihresgleichen. In Spanien wird sie berühmt, denn »sie schrieb ein Buch, gelobt von allen, / über den Bau von Katzenfallen / und eine komplizierte Schrift / zum Thema Rattengegengift«. Gezeichnet hat sie der große Klaus Ensikat, der seinen Betrachtern schon diverse Bildungserlebnisse verschafft hat, unter anderem illustrierte er die »Kinder-Uni«. Sein Strich ähnelt mit seiner fast entrückten Prägnanz an den von F. K. Waechter, der übrigens derselbe Jahrgang war (1937). Ensikat arbeitet elaborierter, nicht so lässig-genial wie der vor zehn Jahren verstorbene Waechter. Bei »Jules Ratte« geht es ja auch nicht um die Kunst des Antiautoritarismus (wie oft bei Waechter), sondern ganz basal um Lernen, Aneignung und Entwicklung. Und zwar selbstorganisiert. Das ist der alte Traum der linken Pädagogik.

 

 

Peter Hacks/Klaus Ensikat: Jules Ratte – oder Selber lernen macht schlau. Eulenspiegel/Kinderbuchverlag, Berlin 2015, 28 S., 14,99 Euro. Die Illustrationen dieser Beilage stammen aus diesem Buch

 

 

 

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