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Aus: Kinder, Beilage der jW vom 01.06.2011

Childfree Ghetto

Sie machen Dreck, und sie sind laut. Schwer genervte Zeitgenossen kämpfen deshalb für mehr kinderfreie Zonen. Den 1. Juni haben sie zum »Erwachsenentag« erklärt
Von André Weikard
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Sämtliche Fotos in dieser Beilage stammen aus dem Band »Schöner unsere Paläste! Berlin-Fotografien 1978 bis 1998« von Gerd Danigel, erschienen im Leipziger Lehmstedt Verlag. Mehr zum Buch auf Seite 5.

BU: Hinterhof an der Schönhauser Allee, 1980



Manchmal sieht man es auf Rolltreppen: Ein Piktogramm von einem Buggy, darum ein roter Kreis, ein breiter roter Balken längs über das Symbolbild: Kinderwagen verboten. Mittlerweile taucht das Verbotsschild immer häufiger auch anderswo auf. Genervte Anwohner im Bezirk Prenzlauer Berg in Berlin, wegen der hohen Schwangerschaftsrate »Pregnancy Hill« getauft, sprayen es auf den Gehweg, malen es an Hauswände und lassen es auf Aufkleber drucken. Hier wird nicht vor Gefahren gewarnt, hier lautet die Botschaft: Kinder unerwünscht!

Und die wird immer populärer. Im bayerischen Kraiburg erließ ein Wirt kurzerhand ein Lokalverbot für unter 12jährige. Nach einer Reportage des Bayerischen Fernsehens, stand das Telefon beim Sender nicht mehr still. 17000 Anrufer zählte die Redaktion. Die meisten wollten aber nicht etwa ihren Ärger über den kinderfeindlichen Wirt loswerden, sondern seine Courage preisen. Die Umsätze im Gasthof »Hacienda« sind nach Einführung des Verbots gestiegen, berichtet der Wirt. »Ich bin nicht dafür da, andere Kinder zu erziehen«, sagt der vierfache Vater. Er hat genug von vollgemalten Tischdecken, dreckigen Schuhen und verschütteter Cola.

Im Münchner Vorort Haar protestierten Anwohner gegen den Bau einer Kindertagesstätte. Die fadenscheinigen Ausreden: mehr Verkehr und mehr Kinder, das bedeute Lärm und eine höhere CO2-Belastung, das geschützte Waldgebiet sei gefährdet, ja, die Lebensleistung der Menschen vor Ort, die vor 30 Jahren ihre Häuser in der Straße gebaut haben, werde nicht respektiert. In Haar kam es zu einer unheilvollen Allianz von Alten und Hundehaltern. Letztere sorgen sich um den Auslauf ihrer Vierbeiner und fragen: »Wo sollen die lieben Kleinen denn dann spielen?« Keinen Auslauf haben die Kinder in Haar. Wer überhaupt einen Krippenplatz bekam, wurde zeitweilig in Containern oder Kellerräumen untergebracht. Immerhin dürften in der Vergangenheit erfolgreiche Klagen gegen Kindergärten aufgrund der entstehenden Dezibel ins Leere laufen. Der Deutsche Bundestag hat vergangenen Donnerstag eine entsprechende Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BimSchG) beschlossen, nach der Kinderlärm nicht mehr als schädliche Umwelteinwirkung gelten darf. Laute Geräusche von Spielplätzen, Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen in Wohngebieten sollen kein Grund mehr für Nachbarschaftsklagen sein. Es gibt jedoch noch die Einschränkung »in der Regel«…

Weltweit organisieren sich Kinderhasser schon seit Jahren im Internet. Beim Aufruf der Website »Childfree Ghetto« etwa erscheint der Warnhinweis, die Inhalte der aufgerufenen Seite könnten nicht für Jugendliche geeignet sein. Man rät Kindern vom Besuch ab. Ausgesperrt auch hier. Dabei könnten die Kinder dort oder auf der kanadischen Seite »nokidding.net« erfahren, was gegen sie im Schilde geführt wird. Zu den Forenvorschlägen gehört etwa die Anschaffung eines Gerätes, das Ultraschallfrequenzen von sich gibt, die nur für junge Ohren hörbar und extrem unangenehm sind, vom abgestumpften Erwachsenenohr aber gar nicht wahrgenommen werden. Die Internetnutzer klagen, nur wegen der Bälger würden interessante Fernsehsendungen ins Nachtprogramm verbannt, und fordern strengere Lärmschutzbestimmungen. Den ersten Sonntag im Juni haben sie übrigens zum »kinderfreien Erwachsenentag« erklärt.

Freilich, wer neben einer Schule wohnt, der kennt das: So sicher wie auf den Blitz der Donner folgt auf die Pausensirene das Pausengeschrei. Und schon manche U-Bahn wurde verpaßt, weil sich zusätzlich zum Zwillingsbuggy eine Pennäler-Horde in den überfüllten Wagen zwängen mußte. Aber manchmal, da steht auch einer von ihnen auf, um einer alten Frau seinen Sitzplatz anzubieten, und manchmal hilft der Gedanke, daß einer von denen, die nebenan auf der Liegewiese im Park gewindelt werden, vielleicht einmal derjenige sein wird, der einem selbst den Hintern abwischt, wenn man es nicht mehr allein kann.

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