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Aus: literatur, Beilage der jW vom 13.03.2008

Verblichene Buchstaben

Zum ersten Mal gedruckt und auf deutsch: Axel Schmolke gibt bei Rotbuch einen auf schwedisch verfaßten Text von Peter Weiss aus dem Jahr 1950 heraus
Von Arnold Schölzel
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»Graffiti is war« – Street Art ist dort, wo sonst nur Mist ist. Die Abbildungen dieser Beilage sind dem auf Seite 24 von Ewald Geissendörfer rezensierten Band »Street Art Hamburg« (Junius-Verlag, Hamburg 2007, 176 Seiten, 19,90 Euro) von Jan P. Schildwächter und Britt Eggers entnommen und erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Vermutlich kam der Maler, Filmemacher und Schriftsteller Peter Weiss (1916-1982) im Herbst 1950 zum ersten Mal nach Paris. Er selbst beschreibt autobiographisch in »Fluchtpunkt« 1962 einen Frühlingsabend in der französischen Hauptstadt, den er ins Jahr 1947 verlegt, und schildert den Aufenthalt in der Metropole als Wendepunkt in seinem Leben: »Die Freiheit war absolut, ich konnte mich darin verlieren, und ich konnte mich darin wiederfinden, ich konnte alles aufgeben, alle Bestrebungen, alle Zusammengehörigkeiten, und ich konnte wieder beginnen zu sprechen. Und die Sprache, die sich jetzt einstellte, war die Sprache, die ich am Anfang meines Lebens gelernt hatte, die natürliche Sprache, die mein Werkzeug war, die nur noch mir selbst gehörte, und mit dem Land, in dem ich aufgewachsen war, nichts mehr zu tun hatte. Diese Sprache war gegenwärtig, wann immer ich wollte und wo immer ich mich befand. Ich konnte in Paris leben oder in Stockholm, in London oder New York, und ich trug die Sprache bei mir, im leichtesten Gepäck. In diesem Augenblick war der Krieg überwunden, und die Jahre der Flucht waren überlebt…«

Drei Jahre nach diesem Text notiert der seit 1939 in Schweden lebende Emigrant Weiss in seinen »10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt« 1965: »Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit. Was auch für Fehler im Namen des Sozialismus begangen worden sind und noch begangen werden, so sollten sie zum Lernen da sein…« Diese Parteinahme war seinerzeit unter Schriftstellern westlicher Länder nicht unüblich, für einen Autor, der erst seit 1960 mit scheinbar unpolitischen, surreal anmutenden Prosatexten hervorgetreten war, allerdings in dieser Entschiedenheit sensationell. Die Überwindung von Antikommunismus straft der westliche Kulturbetrieb mit Verächtlichmachung und Totschweigen. Das klappte in diesem Fall nicht. Weiss erlangte mit seinem szenischen Text zum Auschwitz-Prozeß »Die Ermittlung« und dem Stück über den Revolutionär Jean-Paul Marat gerade Weltruhm.

Die Verbindung von »absoluter Freiheit« zu jenem Sozialismus-Bekenntnis von 1965 blieb das wichtigste Thema für Peter Weiss. Es war und ist, anders formuliert, eine Epochenfrage: Wie gelangt aufgeklärtes, liberales Bürgertum in Zeiten von Kolonialismus, Faschismus und globalem Krieg zu Antifaschismus und zum Sozialismus? Man kann die Texte von Weiss als Versuche lesen, darauf Antwort zu geben. Aktuell wurde die Frage wieder seit 1989/90, vielleicht in noch drängenderer Weise als vor dem Untergang der europäischen sozialistischen Staaten. Daß die Werke von Weiss seither weitgehend aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt wurden, ist ein Teil des Problems: Wer Fragen dieser Art aufwirft und sie mit einer Neigung zum Sozialismus beantwortet, wird vom offiziellen Betrieb geschnitten.

Auch die scheinbar unpolitischen Texte, die Weiss vor 1964/1965 verfaßte, geben auf ihre Weise eine Antwort. Sie sind Selbstzeugnisse eines Künstlers, der den Loslösungsprozeß von Herkunft, von den prägenden Umständen in einem vom deutschen Faschismus ins Exil getriebenen bürgerlichen Elternhaus immer neu zu fassen suchte.

Das gilt auch für »Das Pariser Manuskript« von 1950, das Axel Schmolke unter dem Titel »Füreinander sind wir Chiffren« nun zusammen mit einigen anderen Pariser Texten aus dem Archiv zum ersten Mal herausgegeben, aus der schwedischen Originalfassung übersetzt und ausführlich kommentiert hat. Um es kurz zu machen: Es ist eine faszinierende Edition, die im Geleitwort von Gunilla Palmstierna-Weiss zudem konkrete literarisch-biographische Hinweise auf den schwedischen Kontext enthält, in dem Weiss seinerzeit schrieb.

So sind in diesem Text Einflüsse schwedischer Avantgardisten, ist die Wirkung des französischen Existentialismus zu spüren – entscheidend ist das nicht. Weiss findet hier bereits zu einer Sprache, die er in der wenig später entstandenen Erzählung »Der Schatten des Körpers des Kutschers« bereits mit Meisterschaft beherrscht. Der »Kutscher« erschien 1960 als erste Buchveröffentlichung von Peter Weiss in der Bundesrepublik, nachdem das Manuskript jahrelang von verschiedenen Verlagen abgelehnt worden war. Als der Absurdismus Mode wurde, schien auch dieser Autor ins Raster zu passen. Man sollte sich täuschen.

Weiss verwendet auch im »Pariser Manuskript« die »natürliche Sprache, die mein Werkzeug war« experimentell zur Darstellung einer Welt, die aus den Fugen ist. Er stellt Traumsequenzen, Phantasien und Unbewußtes neben präzise Schilderungen von realen Vorgängen. Aufgeschrieben sind Verhältnisse und ihre Wahrnehmung. Paris ist hier ein Mikrokosmos eines bürgerlich-antibürgerlichen Übergangsfeldes, die auftretenden Figuren, die wie auf einem Theaterzettel zu Beginn aufgeführt werden, könnten einem Marionettenfundus entsprungen sein: der Reisende alias Reiche alias Kentaur, Maler; der Tierpfleger alias Samariter alias Erwachende, Schriftsteller; der Student in spe, Sohn eines hohen Staatsbeamten; das Mädchen, Prostituierte u. a.

Sie begegnen einander in mehr oder weniger mechanischen Aktionen – beginnend mit einem Geschlechtsakt in einer Absteige, in Bars und Kneipen, auf der Straße, in Wohnungen. Geld und Gewalt sind selbstverständliche Ingredienzien. Die Rede ist von einem Totenreich: »Vor der öden Pracht ringsum wird man eingeebnet. Die Tuilerien und die Champs-Élysées, die sind wie Bebauungen im Hades, ...« Denn der Geist, der diese Kapitale des Bürgertums einst bestimmte, ist geschwunden: »Überall in der Stadt stehen Paläste, schwarzbraun wie von Pulverrauch, die langen glatten Fassaden sind uneinnehmbar wie Festungen, verblichene Buchstaben höhnen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!« Die Revolutionsideale von 1789 sind entsorgt.

Über seine Protagonisten, die sich in dieser Welt bewegen, notiert der »Schriftsteller«: »Es sind Figuren, die aus zufälligen Zusammenhängen hervorgewachsen sind, ich beabsichtige mit ihnen nichts, lenke sie nicht, beurteile sie nicht, folge nur ihren Vorhaben und Verwandlungen.« Das klingt nach Ausmalung eines totalen Entfremdungs- und Verhängniszusammenhangs, nach Reduktion auf jenen müden Pessimismus, der Signum spätbürgerlicher Weltbetrachtung von der Romantik bis zum Existentialismus und zur sogenannten Postmoderne der Gegenwart war und ist. Deren Botschaft blieb gleich: Veränderung dieser Gesellschaft ist unmöglich, laßt alle Hoffnung fahren. Ästhetisch, so wird heute aus den Büros der Kunstverwalter entschlossener denn je dekretiert, sei genußträchtige Langeweile fürs »postmateriell« interessierte Publikum die letzte Auskunft von Literatur, Kunst und Philosophie.

Der Weiss’sche Text könnte so ein Versatzstück der Kulturindustrie sein, das machte ihn trivial. Er ist es nicht, weil er bei aller Versenkung in die Physik einer atomar aufgefaßten Gesellschaft nach subjektiven Möglichkeiten einer Lösung aus ihr und damit nach ihrer Veränderung fragt. Weiss hat keine marxistische Sicht auf die Welt, versucht aber Entfremdung in jener Härte und Schwere zu beschreiben, wie es der junge Marx gut hundert Jahre zuvor in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« tat – auch einem Dokument des Übergangs. Bei Weiss heißt es zu diesem Konflikt von Gewalt der Umstände und historischer Tätigkeit des Subjekts: »Ich habe den Prozeß ihrer Verwandlung mit ansehen wollen, aber alles, was uns in der Außenwelt begegnet, ist schon vollendet. Sie ist ständig vollendet durch alles, was in ihr gewirkt hat, so, wie ich für sie vollendet bin. Während wir selbst im Verborgenen, Unkörperlichen leben, sind wir füreinander nur körperlich. Wir selbst sind nur im Werden, aber füreinander sind wir Chriffren.«

Schmolke hat diesen letzten Teil des Satzes für den Titel des Manuskripts gewählt, der erste gehört dazu.

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