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Aus: literatur, Beilage der jW vom 15.02.2006

Hippie-Yuppie-Transformation

Joseph Heath und Andrew Potter rechnen mit der neuen Linken ab – und plädieren für die alte
Von Von Jürgen Elsässer

Nichts wurde Oskar Lafontaine so übel genommen wie seine Rede letzten Juni in Chemnitz, in der er die Angst einheimischer »Familienväter« vor den »Fremdarbeitern« aus dem Osten thematisierte. Der Inhalt der Ansprache wurde nie bekannt und interessierte auch keinen, wichtig war sie nur als Objekt von Sprachkritik – eines der beliebtesten Steckenpferde der neuen Linken. Jedenfalls hatte der Saarländer deren pawlowsche Reflexe stimuliert: Für die politisch Korrekten ist nämlich der/das Fremde per se erst mal hip, während Familie out ist und Familienvater sowieso nur ein Synonym für Patriarch, vulgo Macho.
 
Woher diese Arroganz der Revoluzzer gegenüber den Sorgen und Nöten der breiten Masse der Bevölkerung kommt, erklären die kanadischen Autoren Joseph Heath und Andrew Potter eloquent und streitlustig. In »Konsumrebellen« geht es nicht nur, wie der Titel nahelegt, um Kaufhausstürmereien und Klamotten aus Hanf, sondern um das gesamte Weltbild der Achtundsechziger und ihrer Epigonen. Während für die traditionelle Linke nämlich der Anspruch zentral war, auch den einfachen Leuten ein normales Leben in Würde, mit ihrem Teil am Reichtum zu erkämpfen, hat die neue Linke genau das bekämpft – normales Leben als Konformismus, das Streben nach einer Beteiligung am Wohlstand als Konsumismus. 
 
Statt einzugreifen in die politökonomische Basis der Gesellschaft, strebte die neue Linke eine Kulturrevolution an. Der US-amerikanische 68er-Theoretiker Charles Reich schreibt: »Die Revolution muß eine kulturelle Revolution sein. (...) Heute produziert die Maschinerie das, was ihr gefällt, und zwingt die Menschen zu kaufen. Aber wenn sich die Kultur ändert, hat die Maschinerie keine andere Wahl, als sich zu fügen.« Dasselbe Denken wurde millionenfach von den Beatles in ihrem Song »Revolution« verbreitet: Man solle weder die »Constitution« noch irgend eine andere »Institution« verändern, sondern »free your mind instead«. Nicht vergessen sollte man den Siegeszug von Marihuana und LSD als den psychedelischen Katalysatoren der Befreiung. Süffisant kommentieren Heath und Potter: »Nur wer schon völlig zugedröhnt ist, kann ernsthaft der Meinung sein, Marihuana befreie das Bewußtsein. Sonst müßte er wissen, daß Kiffer die größten Langweiler sind.«
 
Für Heath und Potter beruht der Ansatz der Kulturrebellen auf einer »falschen Gesellschaftstheorie«, die zuletzt auch in der Hollywood-Trilogie »Matrix« in Szene gesetzt wurde. Die Menschen der Zukunft werden darin in vollautomatischen Zuchtanlagen versaftet; sie merken aber nichts davon, weil in ihre Gehirne ein Programm eingespeist wird, eben jene Matrix, die sie glauben läßt, sie lebten immer noch in der recht angenehmen Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Nur einer kleinen Minderheit gelingt die Flucht aus der Sklaverei – fast allesamt Typen wie aus dem Multikulti-Querschnitt einer autonomen Kiezdemonstration in Berlin-Kreuzberg oder Hamburg-Altona. Morpheus, einer ihrer Anführer, erklärt dem frisch rekrutierten Neo die Lage: »Die Matrix ist ein System, Neo. Das System ist unser Feind. Aber wenn du drinnen bist, was siehst du, wenn du dich umguckst? Geschäftsleute, Lehrerinnen, Fliesenleger, Rechtsanwälte und Tischler. Die Seelen der Menschen, die wir retten wollen. Solange wir das nicht tun, sind diese Menschen aber immer noch ein Teil des Systems. Das macht sie zu unserem Feind. Du mußt begreifen, daß die meisten von ihnen noch nicht reif sind zur Abkoppelung. Und viele sind so abgestumpft, sind vom System so hoffnungslos abhängig, daß sie für das System kämpfen werden.« Der Durchschnittsmensch, der »Normalo« oder »Stino«, ist in dieser Weltsicht der Gegner – jedenfalls so lange, wie er aus der Matrix-Gesellschaft nicht ausgestiegen ist.
 
Bis zu diesem Punkt der Argumentation mag es so scheinen, als gäbe es zwischen alter und neuer Linker lediglich eine Art Familienstreit: die gereifte Elterngeneration gegen die ausgeflippten Jungen. Heath und Potter verschärfen die Kritik jedoch und behaupten, die Achtundsechziger und ihre Epigonen seien keine – wie immer auch unzulänglichen – Kritiker des Kapitalismus, sondern seine aggressivsten Protagonisten. Im Gegensatz zu den Marxisten bekämpften sie nämlich nicht die fehlende oder mangelnde Teilhabe der Arbeitenden am gesellschaftlichen Reichtum, also die Ausbeutung, sondern genau das Gegenteil, den angeblichen Überfluß an Konsumgütern. »Die Kritik des Konsumdenkens droht sich auf diese Weise einer Kritik anzunähern, die dem Kapitalismus vorwirft, daß er die Bedürfnisse der Arbeiter zu sehr befriedigt.« Kurz und bündig: »Hippie-Ideologie und Yuppie-Ideologie sind ein und dasselbe.«
 
Der angeblich progressive Nonkonformismus führt zur Zerstörung aller Konventionen und Institutionen, die als bürgerlich abgetan werden. Diese Deregulierung macht den einzelnen nicht freier, sondern schutzloser – ohne Regeln setzt sich ganz simpel der Stärkere durch. »Das Wertesystem der neuen Boheme – alles, was cool ist – ist das Herzblut des Kapitalismus. Coole Leute betrachten sich gern als subversiv, als Radikale, die sich nicht an hergebrachte Methoden halten. Genau das ist der Motor des Kapitalismus. Es ist richtig, daß echte Kreativität absolut rebellisch und subversiv ist, indem sie alle bestehenden Denkmuster und Lebensformen sprengt. Sie sprengt alles, nur nicht den Kapitalismus selbst.«
 
Joseph Heath/Andrew Potter: Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur. Aus dem Englischen Thomas Laugstien. Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, Berlin 2005, 432 Seiten, 19,90 Euro

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