23.03.2024 / Ausland / Seite 7

Entlarvte Lügen

Hamas-Angriff am 7. Oktober: Dokumentation untersucht Vorwürfe. Wohl viele Zivilisten durch israelisches Militär getötet

Jakob Reimann

Der tödlichste Angriff in der Geschichte Israels dient der Regierung des Landes und ihren Verbündeten im Westen als Rechtfertigung für ihren Krieg gegen Gaza, bei dem bisher mindestens 32.000 Menschen getötet wurden, der Großteil davon Frauen und Kinder. Die Investigativeinheit (I-Unit) des katarischen Senders Al-Dschasira hat nun »eine forensische Analyse der Ereignisse vom 7. Oktober durchgeführt« und in einer neuen Dokumentation aufgearbeitet, was an dem Tag geschehen ist.

Zunächst werden die von der Hamas begangenen Greueltaten dokumentiert. Dafür wurden über jeden Getöteten möglichst viele Informationen gesammelt, erklärte Richard Sanders, einer der Filmemacher, gegenüber jW. Laut dieser Datenbank seien am 7. Oktober 1.154 Israelis und ausländische Staatsbürger getötet worden. Davon waren 372 israelische Einsatzkräfte und 782 Zivilisten. Israelische Behörden geben die Zahl getöteter Zivilisten mit 695 an.

Mit Hilfe ihres Datensatzes konnte die I-Unit weitverbreitete Mythen über den 7. Oktober entlarven. Im Kibbuz Beeri sei einer schwangeren Frau der Bauch aufgeschlitzt worden, berichtete Jossi Landau, Einsatzleiter der religiösen Ersthelferorganisation Zaka, unter Tränen auf einer Pressekonferenz: »Das Baby, das noch mit der Nabelschnur verbunden war, wurde erstochen.« Der Kibbuz hat dies zurückgewiesen, doch gegenüber der I-Unit besteht Landau auf seiner Version. Auf Landaus vermeintlichem Tatortfoto kann der Interviewer jedoch kein totes Baby erkennen, auch die erstellte Datensammlung decke seine Geschichte nicht.

Wenige Tage nach den Angriffen ging das Video der Korrespondentin Nicole Zedeck des israelischen Senders I 24 News um die Welt. Zedeck berichtete aus dem Kibbuz Kfar Aza, dort seien »etwa 40 Babys auf Bahren herausgetragen« worden, einige von ihnen »mit abgetrennten Köpfen«, wie ihr israelische Soldaten berichtet hätten. Beide Aussagen wurden in den Medien zu »40 enthaupteten Babys«. Auch die israelische Regierung sprach von »enthaupteten« Babys, ebenso US-Präsident Joseph Biden, der erklärte, er habe »bestätigte Bilder von Terroristen, die Kinder enthaupten«, gesehen. Das Weiße Haus erklärte darauf gegenüber CNN, tatsächlich habe Biden keine solchen Fotos gesehen, und die israelische Regierung räumte ein, sie könne die Berichte nicht bestätigen. Die Datensätze der I-Unit zeigen nun, dass in Kfar Aza überhaupt kein Kleinkind getötet wurde.

Im Kibbuz Beeri hätten Hamas-Kämpfer in einem Wohnhaus 15 Personen »getötet und verbrannt«, darunter acht Babys, erklärte der israelische Oberst Golan Wach im Oktober, er selbst habe sie aus dem Haus geborgen. »Zwei Haufen mit jeweils zehn Kindern wurden Rücken an Rücken gefesselt und verbrannt«, beschrieb Landau von Zaka gegenüber Sky News dieselbe Szene. Die Darstellung griff auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einem Telefonat mit Biden auf. Doch die Datensätze der I-Unit zeigen, dass es bei dem Angriff in Beeri keine getöteten Kleinkinder gab. Die als Geiseln genommenen Zivilisten aus diesem Haus wurden nicht von der Hamas, sondern durch israelische Angriffe getötet, berichtete die israelische Zeitung Haaretz im Januar. Kommandeur Barak Hiram befahl den Beschuss des Hauses mit Panzern, »selbst auf die Gefahr ziviler Opfer hin«, so der Brigadegeneral. Zwölf der 14 Geiseln seien so getötet worden.

Die israelische Zeitung Jediot Acharonot berichtete im Januar, das israelische Militär habe eine Version der sogenannten Hannibal-Direktive ausgegeben. Laut diesem »informellen Protokoll« sei zu bevorzugen, dass ein israelischer Soldat »getötet wird, statt lebend gefangengenommen zu werden«, erklärt der israelische Historiker Uri Bar-Joseph gegenüber Al-Dschasira. Am 7. Oktober sei diese Anweisung anscheinend auch auf zivile Geiseln angewendet worden, heißt es weiter. Israelische Drohnen und Kampfhubschrauber hätten auf rund 70 Fahrzeuge gefeuert, die auf dem Weg zurück nach Gaza waren und in denen sich auch Gefangene befanden. Laut der Todesliste der I-Unit wurden mindestens 27 Geiseln auf dem Weg nach Gaza unter ungeklärten Umständen getötet.

Im israelischen Fernsehen berichteten mehrere Überlebende, sie seien durch israelische Einheiten unter Beschuss geraten. Auch Zivilisten auf dem »Nova«-Musikfestival sollen von israelischen Kampfhubschraubern beschossen worden sein, erklärt eine Polizeiquelle gegenüber Haaretz, was die Polizei später jedoch dementierte. Die Gesamtzahl der am 7. Oktober mutmaßlich durch israelische Kräfte getöteten Zivilisten belaufe sich auf »Dutzende«, erklärt Filmemacher Sanders gegenüber jW. Ob die Hannibal-Direktive zur Anwendung kam, sollte »Gegenstand der öffentlichen Debatte sein«.

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