Too bad
Von Thomas Salter
Die Netflix-Doku »The Reckoning« über den gefallenen HipHop-Superstar Sean Combs aka P. Diddy ist fast zu schön, um wahr zu sein – wobei man »schön« hier in einer Umkehrung verstehen sollte, die sowohl fürs Genre der Sex-Drugs-Crime-»Dokus« als auch für die HipHop-Kultur bezeichnend ist. Fürs ästhetische Empfinden eines Netflix-Bingers kann der Inhalt eines »journalistischen« Formats schließlich gar nicht hässlich genug sein. Und im HipHop, wo nicht zuletzt das Wort »bad« Gütesiegelcharakter hat, ist »schön« erst recht ein Begriff, der weiterer Einordnung bedarf.
Doch zunächst müssen wir uns bei »The Reckoning« mit einem weiteren entscheidenden Wort rumplagen – wieviel von der vierteiligen Serie wohl »wahr« sein mag. Denn wer die eine oder andere vergleichbare Doku gesehen hat, mit Hintergründen der Entstehung dieser Doku vertraut ist, könnte an der allzu hässlich-schönen Erzählung Zweifel haben.
Fakt ist – das wiederholt »The Reckoning« zu Beginn und Schluss jeder Folge mit weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund, dem Stilmittel höchster Faktizität –, dass P. Diddy 2025 von einem New Yorker Gericht in zwei Fällen wegen Zuführung zur Prostitution schuldig gesprochen wurde.
Was ihm außerdem – sehr überzeugend – zur Last gelegt wird, ist an Schockwert kaum zu überbieten: Er habe, ungefähr in dieser Reihenfolge, 1991 den Tod von neun Besuchern eines Charity-Basketballspiels verschuldet, seine Mutter geohrfeigt, eine Labelmitarbeiterin unter Drogen gesetzt und vor einer Videokamera vergewaltigt, seinen Freund und Mitbegründer des Labels Bad Boy, Kirk Burrowes, mit einem Baseballschläger gezwungen, ihm seine Anteile zu überschreiben. Und, ach ja: den Mord an Raplegende Tupac Shakur bei Mitgliedern der Crips-Straßengang angeleiert und bezahlt, ferner den Mord an seinem angeblich besten Freund Notorious BIG aka Biggie vorausgesehen und trotzdem riskiert, indem er Biggie gegen den Rat seiner Sicherheitsleute nach L. A. schickte.
Falls der Zuschauer immer noch keine ernsthaften Zweifel an P. Diddys Integrität entwickelt haben sollte, erfährt er aus dem Mund eines Callboys, dass Diddy den Todestag seines Kumpels Biggie alljährlich mit einer Sexorgie mit seiner Partnerin Cassie Ventura und eben diesem Callboy gefeiert haben soll – dazu haufenweise Drogen und unvorstellbare Mengen Babyöl.
Wir sehen Überwachungsbilder aus einem Hotelflur, die zeigen, wie Diddy Cassie brutal niederschlägt und tritt, als sie am Boden liegt. Zahlreiche Zeugen betonen die Regelmäßigkeit dieser und anderer Gewaltformen in der Beziehung der beiden. Die begann 2005, als der 17 Jahre ältere, verheiratete Plattenproduzent die damals 19jährige zu seiner Gespielin machte.
Das einzige der zahlreichen Verbrechen Diddys, mit denen die Doku sich nicht allzu lange herumschlägt, ist – zum Glück – seine Musik. Denn wenn P. Diddy in diesem Text bisher als HipHop-Superstar bezeichnet wurde, dann auch, um ihm nicht ehrenvoll »Rapper« oder »Musiker« nennen zu müssen.
Diddy, damals noch Puff Daddy, schmuggelte sich in den 90ern als A&R in die Videos seiner Künstler, etwa von Notorious BIG, nuschelte bei jeder unpassenden Gelegenheit auf deren Tracks herum – weshalb ihn der berüchtigte Suge Knight, Labelbesitzer von Death Row, bei den Source-Awards 1995 verarschte. Was den Streit zwischen West- und East-Coast eskalieren ließ, mit dem Tod Tupacs und Biggies als traurigem Ergebnis.
Erst mit dem Tod Biggies im Jahr 1997 konnte sich Diddy als »Künstler« etablieren. Ausgerechnet anhand der Verschandelung des The-Police-Klassikers »Every Breath You Take« zur Popschnulze »Missing You«, in der er den Tod seines angeblichen Freundes schamlos ausbeutete und einen Riesenhit landete. Abgesehen von einem Liveauftritt in weißem Anzug belässt es die Doku in puncto Musik bei einem Mitschnitt aus der Produktion des letzten Albums »The Love Album: Off the Grid« (2023), wo Diddy sich vor der Kamera mit Jesus vergleicht – gegengeschnitten mit dem Produzenten Lil Rod, der amüsanterweise erzählt, »Rapper« P. Diddy habe acht Monate gebraucht, um eine halbwegs hörbare Strophe einzurappen.
Insgesamt könnte man die Schockdoku den längsten Diss-Track aller Zeiten nennen – um so mehr, da in den Credits Curtis Jackson als Executive Producer auftaucht. Das ist der bürgerliche Name von Rapper 50 Cent, der Diddy seit vielen Jahren schwer auf dem Kieker hat. Vor ungefähr zehn Jahren begann er, Material über seine Nemesis zu sammeln, verarschte und kritisierte Diddy bei jeder Gelegenheit.
In einem Interview auf den großen Coup seiner beeindruckenden Materialsammlung angesprochen, konnte 50 Cent sich ein Grinsen nicht verkneifen. Gemeint sind die dokumentarischen Aufnahmen von Diddy unmittelbar vor seiner Verhaftung im Jahr 2024, in denen Diddy sich dabei filmen ließ, wie er eine PR-Strategie für seinen anstehenden Fall vor Gericht bespricht, mit Hilfe von Bloggern und Influencern die Jury zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Was tatsächlich fruchtete.
Wie 50 Cent an dieses Material gelangt ist, wollen er und Regisseurin Alex Stapleton nicht verraten, garantieren aber (grinsend), die Rechte zu haben. Sofern es Diddy nicht gelingt, die weitere Ausstrahlung der Doku zu unterbinden – was er mit einem Heer von Anwälten selbstverständlich versucht –, könnte 50 Cent mit seinem Film gelingen, was der Titel »Reckoning«, also Abrechnung, verspricht: Diddy für seine lange, schmutzige Geschichte von Machtmissbrauch und Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen.
Wenngleich die Auswahl der Zeugen und persönliche Motive 50 Cents punktuell skeptisch machen – dass wir es bei P. Diddy mit einem Menschen zu tun haben, der selbst für HipHop »too bad« ist, wird kaum jemand ernsthaft bestreiten wollen.
Ursprünglich hatte 50 Cent den Film »Diddy do it« nennen wollen. Das wäre zu schön gewesen.
»Sean Combs – The Reckoning«, Regie: Alex Stapleton, USA 2025, vier Episoden à 60 Minuten, bei Netflix
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