Nur die Waffen schweigen
Von Roland Zschächner
Drei Wochen dauerte es, den dreieinhalb Jahre währenden Krieg in Bosnien zu beenden. Als am 14. Dezember 1995 in Paris das Abkommen von Dayton unterschrieben wurde, waren rund 100.000 Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben worden. Doch der Vertrag, der zwischen dem 1. und 21. November auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Wright-Patterson bei Dayton in Ohio unter dem Druck der USA von der serbischen, kroatischen und bosnischen Delegation ausgehandelt worden war, brachte dem Land auf dem Balkan nur einen Minimalfrieden. Die Waffen schwiegen, doch die aufgebrochenen und zum Teil erst neu geschaffenen ethnischen Konflikte wurden durch das Abkommen nicht beseitigt; zudem entstand ein Staat unter kolonialer Aufsicht.
Ausgangspunkt war Anfang der 1990er Jahre der herbeigeführte Zerfall und die anschließende blutige Zerstückelung Jugoslawiens. Der Vielvölkerstaat war zuvor in eine tiefe wirtschaftliche Krise geraten, die sich für die Menschen vor allem durch eine galoppierende Inflation bemerkbar machte. Die ökonomische Schieflage wurde von politischen Akteuren im In- und Ausland genutzt, um die Einheit des Landes und dessen sozialistischen Charakter in Frage zu stellen.
Zugleich hatte sich das globale Kräfteverhältnis zugunsten der Reaktion verschoben. Mit der Übernahme der DDR knüpfte die Bundesrepublik an das 1945 vorerst zurückgedrängte deutsche Großmachtstreben an – inklusive des damit verbundenen Anspruchs auf den Balkan als Hinterhof. Dem spielte in die Hände, dass sich Ende 1990 die führende politische Kraft in Jugoslawien, der Bund der Kommunisten, sang- und klanglos auflöste. Die Leerstelle wurde von liberalen, nationalistischen und anderen westlich orientierten Parteien gefüllt.
Der Weg in den Krieg
Im Juni 1991 proklamierten Slowenien und Kroatien ihre Eigenständigkeit. Die einseitigen Schritte wurden von Österreich und der BRD auf internationaler Ebene unterstützt, obwohl die damit verbundenen Gefahren deutlich waren. Jede ethnische Verengung konnte von den nationalen Minderheiten nur als Angriff auf ihre Rechte – wenn nicht sogar auf ihre Existenz – verstanden werden. Das war in Kroatien der Fall, wo die Serben von einer »konstituierenden Nation« zu einer »nationalen Minderheit« degradiert wurden. Deren Vertreter riefen in der Logik der Abspaltung eigene Republiken aus. Zagreb reagierte mit Waffengewalt, das war der Beginn der Kriege in Kroatien (1991–1995).
In Bosnien war die Lage noch komplizierter. Die verschiedenen Gruppen lebten im ganzen Land verteilt. Die Muslime stellten rund die Hälfte der Bevölkerung und lebten vor allem in den Städten. Dagegen lebten die rund 30 Prozent der Serben auf rund zwei Dritteln des Landes. Neben solchen internen Faktoren spielte der Westen eine entscheidende Rolle bei der Eskalation hin zum Bürgerkrieg. Im Februar 1992 hatte der damalige Präsident Alija Izetbegović ein Referendum über die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vorangetrieben. Eine Mehrheit votierte dafür, doch boykottierte eine Mehrzahl der Serben die Befragung.
Trotz der zugespitzten Lage erkannte die Europäische Union die Selbständigkeit am 6. April 1992 an. Damit wurde eine Situation geschaffen, die von den serbischen Vertretern als Bedrohung bezeichnet wurde und auf die sie bewaffnet reagierten. Zwar bestimmte Gewalt bereits in den vorangegangenen Monaten den Alltag, doch nun wurde sie durch die verschiedenen Gruppen und Milizen militärisch organisiert. Daraus folgten Tod und Zerstörung, vormals gemischte Gesellschaften wurden jetzt anhand ethnischer Zuschreibungen auseinandergerissen.
Der Krieg in Bosnien war nicht nur ein Bürgerkrieg, von Anfang an hatte er auch eine internationale Dimension. Die Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien in Belgrad unterstützte mal mehr, mal weniger die serbischen Kräfte; Kroatien unter Präsident Franjo Tuđman stand an der Seite der bosnischen Kroaten; muslimische Staaten halfen den Bosniaken, zudem zogen Dschihadisten in das Land. Die westlichen Staaten hatten 1991 die Lunte gelegt, ließen das Feuer brennen und begannen schließlich 1995, zuerst in Kroatien und anschließend auch in Bosnien, militärisch zu intervenieren.
NATO-Luftangriffe im Rahmen der »Operation Deliberate Force« sorgten für eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Waren zuvor die serbischen Einheiten bestimmend, wurden sie nun von einem Bündnis bosnischer und kroatischer Truppen zurückgedrängt. Anfang Oktober wurde ein erster Waffenstillstand ausgehandelt. Zugleich erhöhte Washington den Druck. US-Präsident Bill Clinton versammelte unter der Aufsicht seines Sondergesandten für den Balkan, Richard Holbrooke, die Konfliktparteien in Ohio. Abgeschirmt von der Öffentlichkeit kamen Izetbegović, Tuđman und der jugoslawische Staatschef Slobodan Milošević, als Vertreter der serbischen Seite, auf dem US-Stützpunkt zusammen.
Zur Dauerkrise gezwungen
Das getroffene Abkommen war gemessen an den Kriegszielen für jede Seite eine Niederlage. Bosnien wurde de facto in zwei Einheiten geteilt – die bosniakisch-kroatische Konföderation und die serbisch dominierte Republika Srpska. Das politische Leben ist anhand ethnischer Zuschreibung strukturiert. Minderheiten wie Juden und Roma bleiben bei hohen Ämtern außen vor. Zugleich wurde die 60.000 Soldaten starke, unter NATO-Führung stehende Implementation Force (IFOR) nach Bosnien entsandt; mit dem Hohen Repräsentanten wurde zudem ein Amt geschaffen, um – so die eigentliche Aufgabe – den Frieden zu überwachen.
Wenn auch in geringerem Umfang, sind ausländische Truppen immer noch im Land, seit 2022 auch wieder die Bundeswehr. Zugleich hat der Hohe Repräsentant 1997 durch die sogenannten Bonner Befugnisse quasi diktatorische Macht erhalten. Das dysfunktionale System Bosniens wurde auf Dauer gestellt. Symbol dafür ist seit vier Jahren der CSU-Politiker Christian Schmidt. Er beansprucht den Posten des Hohen Repräsentanten und sorgt zugleich dafür, dass Bosnien von einer Krise in die nächste rutscht. Das Resultat ist der Wegzug nicht nur junger Menschen aus dem Land.
Zufrieden sein können indes die NATO und die Bundesrepublik. Die westliche Kriegsallianz konnte ihre Existenz mit dem Label »humanitäre Intervention« bemänteln und so ihre globale Hegemonie vorübergehend ausbauen. Für das wiedererstarkte Deutschland bedeutete die Zerschlagung Jugoslawiens den leichten Zugang zum Balkan, verbunden mit dem Ende militärischer Beschränkungen. Bundeswehr-Maschinen flogen Hilfsgüter nach Sarajevo, was vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 1994 abgesegnet wurde. Der Auslandseinsatz war ein Türöffner. 1999 stiegen deutsche Kampfflugzeuge im Rahmen des NATO-Angriffs »Operation Allied Force« gegen Belgrad auf – 58 Jahre nachdem die Naziluftwaffe die Stadt bombardiert hatte.
Bewusst vage gehalten
Daytoner Friedensabkommen – Anhang 10: Vereinbarung über die zivile Umsetzung des Friedensabkommens
Artikel I
Hoher Repräsentant
1. Die Vertragsparteien kommen überein, dass die Umsetzung der zivilen Aspekte des Friedensabkommens eine Vielzahl von Maßnahmen umfasst, darunter die Fortsetzung der humanitären Hilfe so lange wie nötig, den Wiederaufbau der Infrastruktur und die wirtschaftliche Wiederbelebung, die Schaffung politischer und verfassungsrechtlicher Institutionen in Bosnien und Herzegowina, die Förderung der Achtung der Menschenrechte und die Rückkehr von Vertriebenen und Flüchtlingen sowie die Abhaltung freier und fairer Wahlen gemäß dem Zeitplan in Anhang 3 des Allgemeinen Rahmenabkommens. Eine beträchtliche Anzahl internationaler Organisationen und Einrichtungen wird um Unterstützung gebeten werden.
2. Angesichts der Komplexität der anstehenden Aufgaben ersuchen die Parteien um die Ernennung eines Hohen Repräsentanten, der im Einklang mit den einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ernannt wird, um die eigenen Bemühungen der Parteien zu erleichtern und die Aktivitäten der Organisationen und Agenturen, die an den zivilen Aspekten des Friedensabkommens beteiligt sind, zu mobilisieren und gegebenenfalls zu koordinieren, indem er die in einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen festgelegten Aufgaben wahrnimmt. (…)
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