Weichen gen West
Von Ronald Kohl
Helden gab es viele in der DDR, vor allem Helden der Arbeit. Micha Hartung (Charly Hübner) kam für Orden jedoch nicht in Frage. Er war eher der Typ Reichsbahner, den der Volksmund mit den Worten »Wer nichts will und wer nichts kann, geht zu Post und Eisenbahn« beschrieb. Der »Held vom Bahnhof Friedrichstraße« wird Hartung nur dank seiner Ungeschicklichkeit. Während einer Nachtschicht im Sommer 1984 sollte er eine Weiche am S-Bahnhof Friedrichstraße stellen. Unwillentlich demolierte er dabei die Mechanik, so dass die erste S-Bahn am nächsten Morgen in den Westen durchrauschte. Von den rund 130 Fahrgästen fuhren zwar fast alle gleich wieder nach Hause, doch das ignorieren die Medien im Film, der im Jahr 2019 spielt, konsequent. Man will die Story nicht kaputt recher-chieren.
Der Herausgeber des Nachrichtenmagazins Fakt erfasst die historische Dimension dieser »Massenflucht« als Erster: »Das klingt für mich wie … na ja, also gewissermaßen die Geschichte vom ostdeutschen Oskar Schindler.« – Das Zitat stammt mit dieser Interpunktion zwar aus der von Maxim Leo verfassten Romanvorlage von 2022, doch der Satz klingt im Film ähnlich oder sogar gleich.
Regisseur Wolfgang Becker, der mit »Good bye, Lenin« (2003) international Erfolg feierte und vor einem Jahr verstarb, widmete sich also erneut der DDR. Nur ist dieses Mal die tragische Figur keine zerbrechliche Schönheit, die auf keinen Fall vom Untergang des Sozialismus erfahren darf. Der bedauernswerteste aller Charaktere ist in »Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße« ein bärtiger Bürgerrechtler, »der ewige Zeitzeuge«, der ursprünglich dazu auserkoren wurde, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls im Bundestag eine Rede zu halten. Nun sieht er seine Felle davonschwimmen, weil ihm dieser Held, der aus den Gleisen kam, den Rang abläuft. Eine Möglichkeit, dem Scharlatan das Wasser abzugraben, wäre es, einen alten Stasi-Major auf ihn anzusetzen. Leicht fällt das dem Rauschebart nicht. Der grauhaarige Tschekist hat Verständnis.
Derweil wird Hartung zum Medienstar, Werbeträger und Vorzeigedemokraten aufgebaut. Er lässt es geschehen. Was hat er auch zu verlieren? Die Videothek, die nur noch Miese einfährt? Und eine Frau gibt es längst nicht mehr in Hartungs Leben. Seine große Liebe ist gleich nach dem Mauerfall ohne ihn weggefahren, für immer.
Also genießt Hartung erst einmal den Limousinenservice und die Freundschaft des Bundespräsidenten. Einen gemeinsamen Fernsehauftritt mit Kati Witt (Katarina Witt) hatte er auch schon. Außerdem ist er frisch verliebt – seine kamerataugliche Offenheit wirkt besonders anziehend auf Frauen, bei denen noch alle Therapien versagt haben und die auf der Suche nach einem ehrlichen Partner sind, keinem Blender und Hochstapler.
»Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße« ist nicht nur eine sehr unterhaltsame Satire, es ist ein Film, der mit seinem Humor auch gern an die Grenze des Zulässigen geht. Stets in perfekter Umsetzung. Jedesmal frage ich mich, ob Wolfgang Becker ahnte, dass dies sein letzter Film sein würde? Fest steht, dass er mit Jürgen Vogel (»Das Leben ist eine Baustelle«, 1997) und Daniel Brühl (»Good bye, Lenin«) die beiden wichtigsten Schauspieler seiner Karriere an Bord hatte.
Für alle Kostüme der Olsen-bandefilme galt die eiserne Regel, dass eine Figur von oben nach unten eingekleidet wird. Erst kommt die Kopfbedeckung, dann dazu passend der Rest. Unseren Helden vom Bahnhof Friedrichstraße kann man sich nur mit einer schlechtsitzenden Reichsbahnermütze vorstellen, doch die Zeiten sind nun mal vorbei. Deshalb hat Becker offenbar kurzerhand mit der Unterwäsche angefangen. In der ersten Szene des Films sehen wir Hartung dabei zu, wie er verschläft. Auf seinem zerknautschten T-Shirt steht »Was wird Yvonne dazu sagen?« – Das ist genau die richtige Frage für den letzten Film: Nicht die Geschichte stellt die Weichen, sondern noch immer die Olsenbande.
»Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße«, Regie: Wolfgang Becker, BRD 2024, 113 Min., bereits angelaufen
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