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Aus: Ausgabe vom 13.12.2025, Seite 3 / Inland
Proteste gegen AfD-Jugend

Wie brutal war die Polizeigewalt in Gießen?

Die Staatsgewalt hat bei den Protesten gegen die AfD-Jugend eskalierend und unverhältnismäßig gehandelt, meint Violetta Bock
Interview: Gitta Düperthal
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Vorne schlagen, hinten drücken, in voller Montur: Typisches Vorgehen gegen Demonstranten (Gießen, 29.11.2025)

In einem offenen Brief an Hessens Ministerpräsidenten Boris Rhein kritisieren Sie, dass er und sein Innenminister Roman Poseck, beide CDU, im Fall der Demonstrationen gegen die Gründung der AfD-Jugend am 29. November von einem »Gewaltmarsch« und »bürgerkriegsähnlichen Zuständen« sprechen. Welche Absicht vermuten Sie hinter den Aussagen der Landespolitiker?

In Gießen hat sich die AfD-Jugend »Generation Deutschland« gegründet und mit Jean-Pascal Hohm eine Person zum Vorsitzenden gewählt, die als »rechtsextrem« gilt. Gegen die davon ausgehende Gefahr für unsere Gesellschaft demonstrierten bis zu 50.000 Menschen. Wenn der Innenminister diese jetzt diskreditiert, lenkt er von der tatsächlichen Gefahr ab: In den Hessenhallen traf sich eine mit völkisch-nationaler Gesinnung durchsetzte Parteijugend. Die Polizei einzusetzen, um extrem Rechte zu schützen, und zugleich Polizeigewalt gegen protestierende Bürgerinnen und Bürger anzuwenden: Das zeigt, wovor Poseck Angst hat und wo für ihn der Gegner steht.

Auf einem bekannten Video ist zu sehen, wie ein Polizeitrupp auf AfD-Gegner einprügelt, die singend die B49 bei Gießen blockierten. Poseck erklärte, darin kein rechtswidriges Handeln erkennen zu können. Können Sie das?

Ich war als parlamentarische Beobachterin in Gießen, aber nicht an dieser Stelle. Dass die Polizei eskalierte, war insgesamt spürbar. Ziviler Ungehorsam ist legitim. Das Video spricht Bände. Offensichtlich geht von niemandem eine Gefahr aus, aber die Polizei stürmt auf den Demonstrationszug zu. So schilderte es auch die Aktivistin Sina Reisch, die dabei war. Der Einsatz mit Schlagstöcken, der zu sehen war, ist völlig unverhältnismäßig.

Die Polizei habe zuvor Gewalt angedroht, behauptet der Innenminister. Auf meine Nachfrage bestritt Reisch das am Mittwoch: Es sei eine Lüge. Wie ist zu erklären, dass der hessische Innenminister sich so exponiert?

Nicht das erste Mal verhält sich die hessische Polizei in dieser Weise gegenüber Demonstranten. Es verwundert, dass der Innenminister nicht zuerst konstatiert, dass aufgeklärt werden muss, was passiert ist. Da die hessische Polizei als von rechten Netzwerken durchsetzt gilt, wäre das um so wichtiger. Er verdreht Tatsachen, um der Polizei Rückendeckung zu geben. In Gießen hielt ein Demonstrant ein Schild, das an die Polizei adressiert war: »Wo wart ihr in Hanau?« Man erinnere sich: Am 19. Februar 2020 erschoss ein Attentäter in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven, und nichts geschah. Es hat Tradition, dass die Polizei gegen Linke oder Migranten vorgeht, aber Rechte schützt.

»Zwangsmittel der Polizei« seien erforderlich gewesen, um »dem Rechtsstaat Geltung zu verschaffen«. Da gebe es »naturgemäß unschöne Bilder«, sagte Poseck. Wie bewerten Sie das?

Es ist bedenklich, wenn er es für notwendig erachtet, dass die Polizei gegen Menschen Gewalt anwenden soll, die gegen Faschismus demonstrieren, zugleich aber rechte »Extremisten« schützend begleitet. Nur deshalb konnte die AfD-Jugend mit zweieinhalb Stunden Verspätung ihre Gründung vollziehen. Meines Erachtens sind die Falschen geschützt worden.

Inzwischen soll es Anzeigen wegen Polizeigewalt geben.

Dazu sind mir keine Details bekannt. Vermutlich gibt es nur wenige, auch weil solche Anzeigen oft Gegenanzeigen von der Polizei nach sich ziehen. Zudem gibt es seitens der Betroffenen wenig Vertrauen, dass die Polizei erfolgreich gegen sich selbst ermitteln wird.

Poseck sagte, er lehne die AfD fundamental ab.

Tatsächlich haben viele in der CDU kein Problem damit, mit der AfD zusammenzuarbeiten, wenn sie dazu beiträgt, die Agenda nach rechts zu verschieben. Die CDU/SPD-Bundesregierung nimmt aktuell die Einschränkung der Rechte ganzer Bevölkerungsgruppen vor, ob mit Abschiebungen Schutzsuchender oder Sanktionen gegen Bürgergeldbezieher. Sie setzt Forderungen der AfD sukzessive um. Sie versucht, die Versammlungsfreiheit einzuschränken und nach links einzuschüchtern, damit nicht gegen den autoritärer auftretenden Staat demonstriert wird. Das Kalkül der Polizeigewalt geht aber nicht auf. Die werden erst recht wütend.

Violetta Bock ist Bundestagsabgeordnete der Fraktion Die Linke aus Kassel

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