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Aus: Ausgabe vom 13.12.2025, Seite 1 / Titel
Ukrainekrieg

Friedenspanik in Berlin

Bundesregierung und NATO-Generalsekretär schüren Russenangst. Russlands Botschafter ins Auswärtige Amt einbestellt. EU beschließt Diebstahl russischen Vermögens
Von Arnold Schölzel
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Führen Dunkles im Schilde: Kanzler Friedrich Merz und NATO-Generalsekretär Mark Rutte am Donnerstag in Berlin

Am Donnerstag war Kriegspropagandastunde in Berlin: NATO-Generalsekretär Mark Rutte rief in einer sogenannten Grundsatzrede die Mitgliedstaaten des Rumpfpaktes (ohne USA) zu verstärkten militärischen Anstrengungen auf, um einen von Russland geführten Angriff zu verhindern. Ein Krieg mit Russland könne »von einem Ausmaß sein, wie es unsere Großeltern und Urgroßeltern erlebt haben«, erklärte der Niederländer auf einer Veranstaltung der »Münchner Sicherheitskonferenz«. Zu viele NATO-Staaten spürten nicht die Dringlichkeit der Bedrohung in Europa. Sie müssten die Verteidigungsausgaben und die Produktion rasch erhöhen, um einen Krieg dieses Ausmaßes zu verhindern. Rutte wörtlich: »Wir sind Russlands nächstes Ziel.« Es könne innerhalb von fünf Jahren bereit sein, militärische Gewalt gegen die NATO anzuwenden. »Der Konflikt steht vor unserer Tür. Russland hat den Krieg nach Europa zurückgebracht. Und wir müssen vorbereitet sein.«

Auf derselben Veranstaltung forderte Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU) von den europäischen Partnern mehr Hilfe für Kiew. Deutschland sei in diesem Jahr zum größten Unterstützer der Ukraine geworden, mehr Verbündete in Europa müssten dringend nachlegen. Am Freitag tat er letzteres und bestellte den russischen Botschafter Sergej Netschajew ins Auswärtige Amt, weil Russland Deutschland mit Sabotage und Cyberattacken angreife. Unter Berufung auf Geheimdienste wurden zwei Vorfälle angeführt: Zum einen ein Cyberangriff gegen die Deutsche Flugsicherung (DFS) im August 2024. Er könne der russischen Hackergruppe »Fancy Bear« zugeordnet werden. Ein Sprecher sagte: »Unsere nachrichtendienstlichen Erkenntnisse belegen, dass der russische Militärgeheimdienst GRU die Verantwortung für diesen Angriff trägt.« Die DFS hatte nach dem Angriff auf Nachfrage mitgeteilt, ihre »Bürokommunikation« sei gehackt worden, aber der Flugverkehr sei nicht betroffen. Das Auswärtige Amt teilte außerdem mit, man könne nun verbindlich sagen, dass Russland mit der Kampagne »Storm 1516« versucht habe, »sowohl die letzte Bundestagswahl als auch fortlaufend die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland zu beeinflussen und zu destabilisieren«.

Handfester als die Berufung auf Geheimdienste waren auch am Freitag die Versuche der EU, russisches Staatsvermögen zu stehlen. Sie stießen allerdings auf Hindernisse. Die russische Zentralbank verklagte den belgischen Finanzdienstleister »Euroclear«, bei dem ein Großteil der in der EU beschlagnahmten Anleihen liegt, vor einem Moskauer Gericht. Durch »Euroclears« Vorgehen sei ein Schaden entstanden, da die Zentralbank nicht über Gelder und Wertpapiere verfügen könne, die ihr gehörten. Auch aus der EU kam Kritik. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán bezeichnet die am Freitag im Umlaufverfahren statt auf einem EU-Gipfel getroffene EU-Entscheidung, die Mittel auf unbestimmte Zeit festzusetzen, als »rechtswidrig«. Die Herrschaft des Rechts in der EU sei damit beendet.

Unterdessen bereiten sich Westeuropäer und die USA auf Gespräche mit Kiew am Wochenende vor. US-Präsident Donald Trump sagte jedoch am Donnerstag vor Reportern in Washington: »Wir werden am Sonnabend an dem Treffen in Europa teilnehmen, wenn wir denken, dass es eine gute Chance gibt. Wir wollen keine Zeit verschwenden, wenn wir es für negativ halten.« Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij reist einem Medienbericht zufolge am Montag zu einem Treffen mit Bundeskanzler Friedrich Merz nach Berlin. Geplant seien auch Gespräche im sogenannten E3-Format mit Deutschland, Großbritannien und Frankreich.

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  • Leserbrief von Wilfried Schubert aus Güstrow (15. Dezember 2025 um 11:41 Uhr)
    »Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne Frieden nichts« (W. Brandt)
    Mark Rutte, NATO-Generalsekretär und Russenhass wie kein anderer, hielt am 11. Dezember des Jahres eine Grundsatzrede. Er meint: »Russland hat den Krieg nach Europa zurückgebracht.« Falsch! 1999 führte die NATO Krieg gegen Jugoslawien. Rutte weiter: »Zu viele glauben, die Zeit sei auf unserer Seite. Das ist sie nicht. Jetzt ist der Zeitpunkt, um zu handeln.« Er fordert erneut eine Steigerung der Verteidigungsausgaben und der Unterstützung der Ukraine. Dabei weiß Rutte ganz genau, Die NATO ist bei den Land-und Luftstreitkräften Russland deutlich überlegen. Jährliche Militärausgaben hat die NATO 1,5 Bill., Russland 149 Mrd. US-Dollar. Bei den Soldaten hat Russland 1.320.000. Auf Seiten der NATO immerhin 3.439.197. Wer bedroht wen? Rutte lobte Deutschland im Beisein von Kanzler Merz ausdrücklich. Deutschland verändere seine Einstellung zur Verteidigung und Industrie grundlegend. Es ist damit eine treibende Kraft in der NATO. Bundeskanzler Merz sollte sich besser an einen seinen Vorgänger Helmut Schmidt halten. Dessen Credo war: »Lieber 100 Stunden verhandeln, als eine Minute schießen.«
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (14. Dezember 2025 um 19:41 Uhr)
    Die europäischen Versuche, russische Zentralbankguthaben bei Euroclear im Vorgriff auf (realiter unrealistische) russische Reparationszahlungen quasi zu enteignen, können sehr schnell nach hinten losgehen, und zwar nicht nur für Deutschland mit seinen seit 80 Jahren ausbleibenden Reparationszahlungen. Die jüngste EU-Maßnahme der unbegrenzten Festsetzung der russischen Gelder soll sich auf Artikel 122 AEUV stützen, dem EU-Vertrag von Lissabon. Demnach kann die EU »im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten über die der Wirtschaftslage angemessenen Maßnahmen beschließen, insbesondere falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich, auftreten«. Angewandt wurde diese Bestimmung zum Beispiel zur Maskenbeschaffung in Corona-Zeiten. Der Artikel 122 steht im Kapitel Wirtschaftspolitik des EU-Vertrages, demnach geht es um wirtschaftspolitische Notsituationen. Nicht aber um Verteidigungspolitik. Über den Artikel 122 den Ukraine-Krieg zu finanzieren, ist allein schon von daher rechtswidrig. Zudem stehen keinerlei EU-interne Versorgungsengpässe an. Die Versorgung der Ukraine mit Waffen ist nicht Gegenstand des EU-Vertrages, denn die Ukraine gehört nicht zur EU. Zudem ist die Beschlagnahme russischer Gelder in keiner Weise geeignet, für Entspannung auf dem Markt zu sorgen. Ganz im Gegenteil: Die Klage der russischen Zentralbank beweist, dass Gegenmaßnahmen von russischer Seite kommen werden, und das werden ganz gewiss keine Geldgeschenke sein. Und das kleine Belgien mit russischen Gegenmaßnahmen allein zu lassen, widerspricht dem geforderten Geist der Solidarität. Die Seite https://de.euronews.com/my-europe/2025/12/11/notfallklausel-eu-blockiert-russische-vermogenswerte schreibt seltsam wohlwollend von »einer neuartigen Auslegung« des Artikels, umgangssprachlich würde ich eher von Rechtsverdreherei reden. Die hat in der EU Tradition, siehe die Sanktionen gegen EU-Journalisten oder die Abschaltung russischer Medien.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (13. Dezember 2025 um 10:30 Uhr)
    Bereits unter der US-Strategie der Biden-Administration war klar, dass die NATO eine direkte militärische Konfrontation mit Russland ausschließt, da diese unweigerlich auf einen dritten Weltkrieg hinausliefe. An dieser grundlegenden strategischen Lage hat sich bis heute nichts geändert. Umso unverständlicher ist die derzeitige Eskalationsrhetorik, die ausgerechnet vom NATO-Generalsekretär Mark Rutte besonders lautstark vorangetrieben wird. Die nun propagierte Wiederbelebung des sogenannten E3-Formats dient dabei weniger einer realistischen Konfliktlösung als vielmehr medial-propagandistischen Zwecken. Die drei beteiligten Staaten – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – sind sowohl politisch als auch wirtschaftlich erheblich angeschlagen. Die Ankündigung, ihre Russland- und Ukraine-Politik künftig zentral aus einem gemeinsamen Koordinierungsrahmen heraus zu steuern, löste folgerichtig Irritation und offenen Unmut aus, insbesondere in Brüssel und Warschau. Ob es sich hierbei um einen ernsthaften machtpolitischen Neuansatz oder lediglich um ein taktisches Versteckspiel handelt, bleibt offen. Möglicherweise soll Moskau bewusst im Unklaren darüber gelassen werden, wo in Europa tatsächlich die Entscheidungsgewalt liegt – oder ob es sie überhaupt noch in kohärenter Form gibt.

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