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Aus: Ausgabe vom 12.12.2025, Seite 4 / Inland
AfD-Mann ist Zweiter Bürgermeister

Gerüchteküche Gelsenkirchen

Der AfD-Kandidat Norbert Emmerich wird überraschend zum stellvertretenden Bürgermeister gewählt. Unklar bleibt, wer dafür verantwortlich ist
Von Max Grigutsch
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Ein Prost auf die Brandmauer: Norbert Emmerich (2. v. l.) im Gelsenkirchener Hans-Sachs-Haus (28.9.2025)

Ein Blumenstrauß und eine versteinerte Miene der frisch vereidigten Oberbürgermeisterin Andrea Henze (SPD) stehen stellvertretend für das, was sich am Mittwoch im Gelsenkirchener Rat der Stadt zugetragen hat. Beides ging an den AfD-Mann Norbert Emmerich, der überraschend zum stellvertretenden Bürgermeister gewählt wurde. 23 Stimmen konnte der 72jährige auf sich vereinen – obwohl die AfD nur 20 Sitze im Stadtparlament hat. Woher die drei überschüssigen Stimmen kommen, ist unklar. Jetzt brodelt es in der Gerüchteküche.

Schon in den Monaten vor der Kommunalwahl im September war die »blaue Gefahr« für die Stadt im Ruhrpott beschworen worden. Schließlich setzte sich aber SPD-Kandidatin Henze in der Stichwahl zum Oberbürgermeister mit knapp 67 Prozent gegen den AfD-Konkurrenten Emmerich durch. Im Rat der Stadt war es knapper. Dort holte die SPD 30,36 Prozent, die AfD 29,92 Prozent, was beiden Fraktionen je 20 Sitze bescherte.

Zurück zur konstituierenden Ratssitzung. Die Sache war abgesprochen: Um einen AfD-Erfolg zu verhindern, hatten SPD und CDU eine gemeinsame Liste zur Wahl der zwei stellvertretenden Bürgermeister aufgestellt. Auch andere Fraktionen wollten aushelfen. Vorgeschlagen waren der Sozialdemokrat Manfred Leichtweis als Erster, der CDUler Werner Wöll als Zweiter Bürgermeister. Auf die Liste entfielen am Mittwoch die Stimmen von 43 der insgesamt 66 Stadtverordneten. Dagegen stand die AfD, die zwar unterlag, aber aufgrund des sogenannten D’Hondt-Rechnungsverfahrens ausreichend Stimmen erzielte, um an Stelle des CDU-Kandidaten den zweiten Posten zu belegen. So wurden kurz darauf Leichtweis und Emmerich vereidigt. Überrascht war letzterer selbst. »Mir fehlen die Worte. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass wir drei Stimmen mehr kriegen, als wir im Rat haben«, sagte er dem WDR.

Auch das ist bemerkenswert: Niemand will es gewesen sein. Folglich häufen sich die Spekulationen. Erstens ist es nicht unwahrscheinlich, dass Abweichler in den CDU-Reihen für das Durchfallen ihres eigenen Kandidaten gesorgt haben. Von diesen Mutmaßungen erfuhr junge Welt am Donnerstag übereinstimmend aus Ratskreisen und von Sachkundigen vor Ort. Grund könnte demnach sein, dass die Verordneten entweder intern abrechnen wollten oder auf künftige Mehrheiten mit der AfD setzen. Dafür spricht, dass im November in Gelsenkirchen-Süd ein stellvertretender Bezirksbürgermeister der AfD nur mit der Stimme eines Abweichlers – mutmaßlich aus SPD oder CDU – gewählt werden konnte. Die Gelsenkirchener Union gilt als besonders rechts.

Eine zweite, wohl unwahrscheinlichere Vermutung betrifft den Ablauf im Rat. Als Emmerich seinen Amtseid ablegte, verließen nach Schilderung des Lokalblatts WAZ alle Verordneten den Saal – außer die Einzelmandatsträger von WIN und BSW. Das lokale BSW teilte am Donnerstag auf jW-Anfrage mit, ihr Vertreter habe »verhandlungskonform mit den anderen Parteien den AfD-Kandidaten nicht gewählt« und gemeinsam mit WIN den Raum »aus Anstand« nicht verlassen.

Schließlich kursiert der Verdacht, dass für eine der drei AfD-Extrastimmen Gökhan Yilmaz, Mandatsträger der Gelsenkirchener Union für Teilhabe (GUT), verantwortlich ist. Auf Instagram gemutmaßt – allerdings ohne den Namen zu nennen – wurde das am Mittwoch zum Beispiel von Lisa Gärtner von der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), die in Gelsenkirchen ihre Parteizentrale hat. Sie verwies auf Verbindungen zu den »Grauen Wölfen«. Darauf, dass GUT augenscheinlich eine Fassade für die auch in Deutschland aktive Gruppe türkischer Faschisten ist, hatte die Gelsenkirchener Correctiv-Lokalredaktion im August ebenfalls hingewiesen.

Ob ans Licht kommt, welches Geraune der Wahrheit am nächsten kommt, bleibt abzuwarten. »Ausnahmslos alle sagen, sie waren es nicht. Aber irgendwer wird es gewesen sein«, sagte der Stadtverordnete Jan Specht vom linken Wahlbündnis AUF (kurz für »Antifaschistisch. Unabhängig. Fortschrittlich.«) am Donnerstag gegenüber jW. Auf Anfragen dieser Redaktion reagierten CDU und GUT bis Redaktionsschluss nicht.

Für Specht ist es »ein Hammer, dass drei angeblich demokratische Stadtverordnete die AfD gewählt haben und damit einer faschistischen Partei die Stimme gegeben haben«. Das beschädige eine zukünftige Zusammenarbeit im Rat. Aber auch wenn zumindest einige der gewählten Vertreter der AfD die Hand reichen, bleiben die Gelsenkirchener stabil. Vor dem Rathaus hatte sich am Mittwoch eine antifaschistische Kundgebung unter Teilnahme von Die Linke, AUF, Die PARTEI und MLPD formiert. Zur Vereidigung Emmerichs ließen einige Demonstranten dann im Ratssaal ein Banner mit der Aufschrift »Alle zusammen gegen den Faschismus« herunter.

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