Splitter im Herzen
Von Kai Köhler
Die Titelfigur kommt kaum vor. Schon im Zentrum von Hans Christian Andersens Märchen steht das Mädchen Gerda, das seinen verschwundenen Spielgefährten Kay sucht. Der Weg führt Gerda über Stationen wie Hexenhaus und Königspalast zum Ziel. Auch Krähen, ein Rentier, eine Räubertochter und eine Finnin erweisen sich als hilfreich. Gerda findet Kay bei der Schneekönigin. Warum aber war der Junge der kalten Herrscherin gefolgt? Weil er seine kindliche Naivität verloren hat. Die Teufel hatten einen Spiegel erschaffen, der alles Schöne in hässlicher Verzerrung erscheinen lässt. Als der Spiegel zersprang, war freilich nichts gerettet, im Gegenteil: Die zahllosen Splitter setzten sich in den Augen und Herzen der Menschen fest. Und so wurden sie wie Eis.
Gerda aber ist naiv geblieben, deshalb findet sie immer wieder Unterstützung auf ihrem Weg. Andersen reflektiert das Naive, indem er die Versuchung darstellt. Insofern erscheint es sinnvoll, die Schneekönigin im Titel zu nennen. Indem das Naive sich gegen den Verstand durchsetzen musste, gelangt es auf eine neue Ebene. Nicht zufällig finden sich Gerda und Kay nach ihren Reisen als Erwachsene wieder.
Der Stoff ist nicht nur theater- und filmtauglich, sondern auch für die Oper geeignet. »Die Geschichte von Kay und Gerda« des sowjetischen Komponisten Sergej Banewitsch wurde 1980 in Leningrad uraufgeführt, Marius Felix Langes »Schneekönigin« in Duisburg im Jahr 2016. Abrahamsens Werk kam zuerst 2019 in Kopenhagen auf die Bühne und wurde seither mehrmals nachgespielt. Abrahamsen legt rhythmische Zeilen so übereinander, dass ein komplexes Muster entsteht. Zuweilen aber sind die Register der Instrumente so nah beieinander, dass Einzelheiten im Gewebe schwer zu erkennen sind und eine Art Klangfarbenmelodie entsteht. Oft finden sich Ansätze zu erkennbaren Melodien, doch bewusst nur Ansätze, die Vertrautes erahnen lassen, ohne überkommene Wirkungen zu bedienen. Im Zusammentreffen der orchestralen Schichten und im Verhältnis von Orchester und Gesang klingt immer wieder Tonalität an – auch auf dieser Ebene werden Erwartungen geweckt, wird ein stabiler Haltepunkt gleichwohl vermieden.
Die Komposition ist nicht eingängig, wirkt durch Klangfarbenreichtum indessen unmittelbar. Dirigent Titus Engel arbeitet das in Dresden eindrücklich heraus, von der sehr leisen, hell klirrenden Wintermusik des Beginns bis zu Aufgipfelungen des sehr großen Orchesters. Zumeist aber setzt Abrahamsen sein umfangreiches Instrumentarium kammermusikalisch ein.
Das Geschehen ist auf knappe 95 Minuten in drei Akten zusammengefasst. Die Übergänge zwischen den Stationen von Gerdas Suche werden bereits in der Oper nur angedeutet. In der Dresdner Inszenierung von Immo Karaman ist diese Tendenz noch zugespitzt. Sie setzt ganz auf sinnliche Wirkung, verstärkt durch ein Tanzensemble und die Bühne Arne Walthers, die einen Wechsel zwischen der Enge der Kinderstube und einer unendlichen Zimmerflucht der Königspaläste erlaubt. Räume öffnen und schließen sich, Objekte verschwinden und tauchen wieder auf. Phantastische Gestalten drohen und locken. Karaman erweckt die Illusion, sich durch einen Traum zu bewegen, der auch Alptraum ist.
Zusammen mit der kaum fassbaren, zugleich reizvollen Musik ergibt das starke Eindrücke und wurde vom Premierenpublikum mit Grund bejubelt. Dem Verfasser dieses Artikels aber mag ein winziges Stücklein des Teufelsspiegels ins Auge oder Herz gedrungen sein und immer noch dort stecken – er sieht auch den Verlust, der in der Konzeption der Oper liegt, verstärkt durch die der Regie. Andersen hat mit Gerda eine Figur geschaffen, die sich entwickelt. Der Beginn ihrer Fahrt ist eher zufällig, am Ende handelt sie zielstrebig. In Oper und Inszenierung sieht und hört man zwar viel und Schönes, doch tritt, bei aller Beweglichkeit im Detail, die Entwicklung zurück und ist das Ergebnis im ganzen statisch.
Entsprechend schwer hatten es die Solisten. Louise McClelland Jacobsen als Gerda und Valerie Eickhoff als Kay meisterten ihre schwierigen Partien stimmschön und tadellos. Doch ein wirkliches Interesse an ihren Figuren konnten sie ebenso wenig wecken wie der Bass Georg Zeppenfeld, der als Schneekönigin eine zu knappe Rolle hatte, um das Bedrohliche und Verlockende der Figur hörbar zu machen. So hat man an diesem Abend zahlreiche schöne Einzelheiten genießen können, fragt aber teuflischen Herzens, welche Zusammenhänge des Märchens dem geopfert wurden.
Nächste Aufführungen: 18. und 22.12.
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