Tricksen um Neuwahlen
Von Reinhard Lauterbach
Der ukrainische Staatspräsident Wolodimir Selenskij hat unter Druck aus den USA seine Ablehnung baldiger Neuwahlen in der Ukraine relativiert. Er klebe nicht an seinem Posten und sei bereit, sich innerhalb der nächsten 90 Tage einem solchen Votum zu stellen, sagte Selenskij am Dienstag abend. Voraussetzung dafür seien allerdings Sicherheitsgarantien der USA und der EU für den Verlauf des Urnengangs und dafür, dass er auch in den umkämpften und besetzten Teilen des Landes stattfinden könne. Zuvor hatte US-Präsident Donald Trump erklärt, in der Ukraine sei schon so lange nicht mehr gewählt worden, dass das Land langsam keine Demokratie mehr sei. Ein hoher US-Beamter sagte parallel dazu, die Ukraine müsse allmählich zur Kenntnis nehmen, dass sie den Krieg verliere, und daraus Konsequenzen ziehen.
Selenskij hatte Neuwahlen während des Kriegszustandes bisher immer als verfassungswidrig abgelehnt. Das ist aber nur zum Teil wahr: Die Verfassung der Ukraine verbietet Parlamentswahlen in einer solchen Situation – von Präsidentschaftswahlen ist dort aber keine Rede. Die Bestimmungen zum Kriegszustand schließen zwar Wahlen jeder Art für dessen Dauer aus, aber sie haben juristisch als einfache Gesetze einen geringeren Rang als die Verfassung. Sie könnten also auch mit einfacher Mehrheit geändert werden, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist.
Bei näherem Hinsehen erweist sich allerdings Selenskij Haltungswechsel als mutmaßliche Mogelpackung. Sein offenkundiges Ziel ist, durch die Hintertür der Neuwahlen jene Sicherheitsgarantien insbesondere der USA zu erhalten, zu deren Gewährung Präsident Donald Trump bisher nicht bereit war. Eine solche Interpretation steht auch im Einklang mit der ukrainischen Haltung zu den jüngsten Friedensplänen der Vereinigten Staaten. Der ukrainisch-europäische Gegenentwurf, von dem es Anfang der Woche hieß, er sei so gut wie fertig, war auch am Mittwoch noch nicht nach Washington übermittelt. Am Mittwoch morgen sagte Selenskij in Kiew, es werde pausenlos an diesem Gegenentwurf gearbeitet, um die »antiukrainischen Positionen« daraus zu entfernen. Das heißt im Klartext: Die Ukraine versucht, ihren Entwurf zumindest für Russland inakzeptabel zu machen. Kern des Streits ist die Forderung der USA, die Ukraine solle auf den Donbass in Gestalt der Bezirke Donezk und Lugansk verzichten. Selenskij erklärte, dies sei nach der ukrainischen Verfassung, dem Völkerrecht und der Moral unmöglich.
Währenddessen verschlechtert sich die Stromversorgung der Ukraine wegen wiederholter russischer Angriffe weiter. Anfang der Woche waren die Verbraucher in vielen Regionen für 16 Stunden am Tag ohne Strom. Vertreter der Energiewirtschaft berichteten, es gebe langsam keine Ersatzteile mehr für Kraft- und Umspannwerke. Sie reichten noch für »zwei bis drei Angriffe«, danach seien die Reparaturtrupps machtlos.
Von der Front berichtete Russland über die Eroberung des größten Teils der Stadt Sewersk im Norden des Bezirks Donezk. Von Sewersk aus sind es aus östlicher Richtung noch etwa 20 Kilometer bis Slowjansk. Bisher hatte die Ukraine die Doppelstadt Slowjansk-Kramatorsk vor allem gegen Angriffe aus Süden – aus Richtung Pokrowsk – verteidigt. Russische Truppen haben die Nachbarstadt von Pokrowsk, Mirnograd, nach übereinstimmenden Berichten beider Seiten inzwischen eingeschlossen. Die Ukraine musste zuletzt zwei Ortschaften südlich davon räumen.
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