Der Begriff des Eigentums
Von Stefan Ripplinger
Erneut rücken die Vereinigten Staaten auf Südamerika vor. Im Fadenkreuz liegen diesmal Venezuela und Kolumbien. Müde verweisen viele auf die Monroe-Doktrin, die als Visitenkarte des US-Imperialismus gilt. Und doch sahen noch weit bis ins 20. Jahrhundert etliche Diplomaten des Südens diese Doktrin als eine Art Schutzbrief an. Wie das kam, erläutert der Historiker Greg Grandin in »America, América«, seiner voluminösen, gründlich recherchierten und glänzend geschriebenen Gegengeschichte der beiden Amerikas.
Als US-Präsident James Monroe die Doktrin 1823 erließ, umfasste sie nicht nur den Punkt, die USA sähen sowohl Nord- als auch Südamerika als ihre höchsteigene Angelegenheit an, sondern auch den, der besagte, dass bereits existierende Besitzungen bestehen bleiben sollten. Darin wollten Südamerikas Herrscher den Rechtsgrundsatz »Uti possidetis« erkennen, der besagt, dass bestehende Grenzen nicht mehr geändert werden dürfen.
Allerdings lehnte Präsident Monroe diesen Grundsatz ab, und im Laufe der Zeit wurden die Südamerikanerinnen und Südamerikaner mit Gewalt darüber aufgeklärt, worauf seine Doktrin hinauswill. Um es mit einem seiner Nachfolger, Woodrow Wilson, zu formulieren: »Amerika zuerst, zuletzt und immerdar.« Mit »Amerika« sind, wie heute bei Donald Trump, ausschließlich die USA gemeint. Adolf Hitler begriff das, als er eine europäische, sprich deutsche Monroe-Doktrin einforderte.
Südamerika war es vom Norden zugedacht, sein Rohstofflieferant, sein Billiglohnland, sein Truppenübungsgelände zu sein. Aber es war von Anfang an auch seine Herausforderung und sein Gegenentwurf, denn die Besiedelung – sprich die Ermordung der Alteingesessenen – verlief hier wie da anders und wurde im Norden und Süden je anders reflektiert.
An dieser Stelle seien zarte Gemüter gewarnt. Die Geschichte der beiden Amerikas ist von Beginn an entsetzlich, und Grandin erspart einem die vielen Grausamkeiten nicht. Er nennt aber auch die meist machtlosen Rebellen des Südens, von denen der Dominikanerpater Bartolomé de Las Casas (1484–1566) der erste ist. Er war mit den Spaniern ins Land gekommen, durchaus der Sklaverei und anderen Schandtaten nicht abgeneigt, bis er eines Tages zum Teil eines Blutbads wurde, das Grandin so schildert: »Im letzten, noch nicht eroberten Dorf, Caonao, angekommen, wurden die Soldaten von Tausenden knienden Indianern begrüßt. Sie knieten still, überragt von den Pferden. Abgesehen von dem Scharren der Hufe blieb alles ruhig. Plötzlich zog ein Soldat sein Schwert und zerfetzte die vor ihm Knienden. Der Rest der Soldaten fiel ein, ermordete Männer, Frauen, Kinder, Kranke und Alte. Mit ihren Lanzen weideten sie ihre Opfer aus. Ein Dörfler, dem die Eingeweide aus dem Bauch quollen, fiel in die Arme von Las Casas, der ihn taufte und ihm das Sterbesakrament spendete.«
»Y yo lo vi« (Und ich habe es gesehen). Bis ans Ende seines Lebens sollte Las Casas gegen den Völkermord und die von allen Kathedern verbreitete Ansicht auftreten, die Eingeborenen seien bloß Vieh oder, mit Aristoteles, »beseelte Besitztümer«. Las Casas’ Schriften wurden in ganz Europa nachgedruckt, er fand sogar beim König Gehör. An der Vernichtung der Ureinwohner änderte das nichts. Im Gegenteil erklärte etwa der Kaufmann George Peckham 1583, bei der Ausrottung der Iren sollte England sich die Konquistadoren zum Vorbild nehmen. Von diesen wurde die auch heute noch angewandte Methode übernommen, den Feind verhungern zu lassen.
Während der Süden den Mord beging, sich jedoch hinterher über ihn grämte, beging der Norden denselben Mord, stimmte aber erbauliche Reden von einem »freien Boden« für alle an, womit allerdings nur derjenige der Alteingesessenen gemeint sein konnte. Die Puritaner sprachen ihnen jedes Besitzrecht ab, weil sie als Nomaden keinen Begriff von »Privateigentum« hätten. Grandin arbeitet fein heraus, dass im Gegensatz zum Norden der Begriff des Eigentums im Süden fast immer von einem sozialen Anspruch bestimmt und begrenzt war und ist: Landreform, gute Löhne, Lebensrecht. Und als 1862 Abraham Lincoln die freigelassenen Sklaven nach Panama deportieren wollte, hatten einige Staaten Südamerikas die Sklaverei schon abgeschafft.
Der Norden prosperierte mit Sklaverei und Ausbeutung und nahm sich nur ein einziges Mal auf Dauer ein Beispiel am Süden. Das war in der Regierungszeit von Franklin D. Roosevelt, also von 1933 bis 1945. Damals schmiedeten die USA nicht nur ein antifaschistisches Bündnis mit dem Süden; der Vizepräsident von Roosevelt, Henry A. Wallace, begab sich, unter dem Protest des heimischen Kapitals, persönlich nach Südamerika, um gerechte Löhne und Arbeitsverhältnisse, eine Art Lieferkettengesetz, einzufordern.
Doch der Zweite Weltkrieg hatte die USA reich und mächtig gemacht, das Kapital forderte immer gieriger seinen Teil, und unter dem Nachfolger von Roosevelt, Harry S. Truman, ersetzte die neugeschaffene CIA sozialdemokratische Regierungen des Südens reihenweise durch faschistische, deren Diktatoren allesamt in General Francisco Franco ihr Vorbild sahen: François Duvalier, Alfredo Stroessner, Rafael Trujillo … Allein in den 1960er Jahren stürzte die CIA 16 unliebsame Regierungen Südamerikas. 1973 installierte man General Augusto Pinochet in Chile, dessen zugleich autoritäre und neoliberale Politik man nach 1991 Russland als Modell empfahl.
Nicht erst seit 1854, als ein US-Kriegsschiff auf Wunsch des Moguls Cornelius Vanderbilt die nicaraguanische Stadt Greytown in Schutt und Asche legte, und nicht nur bis in die frühen 1960er, als Präsident John F. Kennedy alle »Schrecken der Erde« auf Kuba herabrief, hat der Süden die Aggression des Nordens ertragen müssen. Und doch hat er in all dieser Zeit die »Realidad social«, die gesellschaftliche Wirklichkeit, nie aus dem Blick verloren. Folgt man Greg Grandin, wird ihm auch Trump diese Unbotmäßigkeit nicht austreiben können.
Greg Grandin: America, América. A New History of the New World. Penguin, London 2025, 737 Seiten, 25 Euro
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